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Schlechte Noten für Europas Fließgewässer

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Forscher haben die Vorkommen wirbelloser Fließgewässer-Arten, wozu auch die Larven der Libellen gehören, von 1.365 Standorten in 23 europäischen Ländern ausgewertet. Bild: Peter Haase, Senckenberg
Forscher haben die Vorkommen wirbelloser Fließgewässer-Arten, wozu auch die Larven der Libellen gehören, von 1.365 Standorten in 23 europäischen Ländern ausgewertet. Bild: Peter Haase, Senckenberg

Ein internationales Forschungsteam unter Leitung der Senckenberg-Wissenschaftler Dr. James Sinclair und Prof. Dr. Peter Haase hat Fließgewässer 23 europäischer Länder untersucht.

Anhand wirbelloser Tiere von 1.365 Standorten zeigen sie erstmals in ihrer kürzlich im Fachjournal „Nature Ecology & Evolution“ erschienenen Studie die jährliche Veränderung der ökologischen Qualität der Flüsse seit den 1990er Jahren. Während diese insgesamt zugenommen hat, kam die positive Entwicklung um 2010 zum Erliegen. Die Forschenden warnen, dass der erforderliche „gute“ ökologische Zustand im Durchschnitt in den Fließgewässern nicht erreicht wurde.

90 Prozent unserer Fließgewässer nicht in gutem Zustand

Flussbegradigungen, eingeschleppte Tier- und Pflanzenarten, der globale Klimawandel und Verschmutzungen – der Mensch beeinflusst die Ökosysteme von Fließgewässern massiv. „Entsprechend haben derzeit rund 60 Prozent der Flüsse Europas keinen guten ökologischen Zustand. In Deutschland sind es sogar rund 90 Prozent. Die seit 2000 geltende EU-Wasserrahmenrichtlinie sollte hier Abhilfe schaffen, jedoch gab es bislang keine belastbaren Daten zum zeitlichen Verlauf von Änderungen in der ökologischen Qualität von Flüssen“, erklärt Prof. Dr. Peter Haase vom Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt.

Haase hat gemeinsam mit seinem Kollege Dr. James Sinclair und einem internationalen Forschungsteam die Daten wirbelloser, in Flüssen lebender Tiere von 1.365 Standorten in 23 europäischen Ländern ausgewertet, um die zeitlichen Trends anthropogener Einflüsse zu untersuchen. „Basierend auf diesem einmaligen Datensatz konnten wir die Veränderung der ökologischen Qualität in Flüssen seit Anfang der 1990er Jahre jährlich auflösen“, erläutert Sinclair. Haase ergänzt: „Um die menschengemachten Auswirkungen zu bewerten, haben wir zunächst – im Untersuchungszeitraum 1992 bis 2019 – geschaut, wie sich die Lebensgemeinschaften im Vergleich zu ihren Ausgangsbedingungen verändert haben. So können wir eine Bewertung langfristiger Trends zur ökologischen Qualität auf europäischer Ebene geben.“

Seit 2010 keine positive Entwicklung mehr

Sinclair führt weiter aus: „Wir haben festgestellt, dass die ökologische Qualität von den 1990er Jahren bis 2010 generell zugenommen hat, ebenso die Anzahl empfindlicher Taxa, was auf geringere anthropogene Einflüsse hinweist – dieser positive Trend kommt aber um 2010 zum Erliegen. Auch der notwendige – in der EU-Wasserrahmenrichtlinie festgehalten – ‚gute‘ ökologische Zustand wurde im Durchschnitt noch nicht erreicht. Die bessere Wasserqualität ist wahrscheinlich auf europäische Maßnahmen zurückzuführen, die verstärkt ab den 1980er Jahren eingeführt wurden, wie beispielsweise eine verbesserte Abwasserbehandlung.“

Neue Pestizide und Medikamente in den Flüssen

In ihrer erstmalig für Europa zusammengestellten Übersicht zur ökologischen Wasserqualität zeigen die Forschenden, dass deren Verbesserung nach den 2010er Jahren stagniert. Als wahrscheinliche Ursachen nennen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler neue und bestehende Stressfaktoren wie Verschmutzung und Lebensraumveränderung, zunehmende negative Effekte wie den Klimawandel und neu auftretende Probleme wie den Eintrag von neuartigen Pestiziden oder Arzneimitteln.

In einem zweiten Schritt setzen die Forscherinnen und Forscher die ermittelte ökologische Qualität in Beziehung zu gängigen Kennzahlen, wie der Häufigkeit oder Vielfalt von Arten oder der Zusammensetzung von Faunengemeinschaften, sowie zu gängigen Biomonitoring-Indizes, die das Vorkommen sensibler Taxa widerspiegeln.

„Hintergrund unserer Arbeit ist, dass es zahlreiche Studien gibt, die über zum Teil widersprüchliche Veränderungen der biologischen Vielfalt berichten, also mal Verbesserung, mal Verschlechterung. Dies hängt damit zusammen, dass sich einige dieser Studien nur auf einzelne Biomonitoring-Indizes beschränken, bislang aber unklar war, ob diese Indizes überhaupt den ökologischen Zustand hinreichend abbilden“, erläutert Haase.

„Deutlich wird zudem, dass Lebensgemeinschaften in Abhängigkeit zur räumlichen Skala unterschiedliche Reaktionen auf anthropogene Einflüsse zeigen. So können beispielsweise negative Einwirkungen lokal zu einem Rückgang der Häufigkeit oder des Artenreichtums führen. Regional ist aber keine Gesamtveränderung zu verzeichnen, weil die Verluste durch Zuwächse an anderen Orten ausgeglichen werden. Oder es kann sogar zu einer Zunahme der Artenzahl kommen, wenn sich – den Veränderungen gegenüber tolerante – Arten vermehren“, so die Gelnhäuser Wissenschaftler.

Laut der neu erschienenen Studie können folglich die in vielen Untersuchungen festgestellten unterschiedlichen Trends bei der biologischen Vielfalt das Ergebnis unterschiedlicher Raumskalen – lokal, regional, kontinental – oder unterschiedlicher Biomonitoring-Indizes sein. Eine weitere Komplikation bestehe darin, dass den meisten Studien zur biologischen Vielfalt die Ausgangsdaten vor der Beeinflussung durch den Menschen fehlten. „Ohne Basisdaten ist es aber schwierig festzustellen, ob die Veränderungen der biologischen Vielfalt auf anthropogene Einflüsse oder auf natürliche Schwankungen zurückzuführen sind“, so Sinclair.

„Unsere Ergebnisse zeigen, dass ohne ausreichende Daten über einen längeren Zeitraum und eine sorgfältige Auswahl der Metriken biologische Trends und anthropogene Einflüsse nicht zuverlässig wiedergegeben werden können. Bei den bislang genutzten Indikatoren ist einzig die Artenvielfalt ein recht zuverlässiger Anzeiger für eine Veränderung der ökologischen Wasserqualität. Dies sollte bei zukünftigen Bewertungen unbedingt berücksichtigt werden“, schließt Haase.

-Pressemitteilung Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung-

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