THOMAS KALWEIT über den vielleicht berühmtesten Angler der Welt, einen sagenhaften See in England und einen folgenreichen Formfehler.
In den frühen 50er Jahren entwickelte sich eine unscheinbare Tongrube im südlichen englischen Bedfordshire zum Mekka der Barschangler. Kaum mehr als zehn Jahre alt war damals der Fischbestand im Arlesey-See (ausgesprochen „Arlsi“), die London Brick Company hatte dort erst 1935 mit der Tonförderung begonnen. Die gerade einmal sechs Hektar große Grube war zwischen 16 und 20 Metern tief und wurde vom Hitchin Angling Club bewirtschaftet. Während eines ungewöhnlich kalten Winters befischte ein gewisser Richard „Dick“ Walker zusammen mit seinem Angelkumpel Bob Rutland dort gezielt die tiefsten Gewässerbereiche. Bei eiskaltem Januar-Wind vermuteten sie in der Tiefe das Rückzugsgebiet der Großbarsche. Das Problem: Die Löcher lagen außerhalb der üblichen Wurfweite. Dem unermüdlichen Tüftler und Ingenieur Walker ließ dieser missliche Umstand keine Ruhe. Als erster Angler der Welt wollte er an dieser Tongrube mit einem Wurm 65 Meter weit werfen! Nicht lachen – Dick fischte damals mit gespließter Holzrute und urtümlicher Felton-Crosswind-Stationärrolle mit Halbbügel. Walkers erster Weitwurf sollte die Angelei bis heute verändern.
Bomben-Idee
Dick wählte eine simple Laufblei-Montage. Vor diesen denkwürdigen Tagen am Arlesey-See fischten die Angler mit plumpen, durchbohrten Bleikugeln, Oliven oder Sargbleien. Walker wollte seinen Köder aber so unverdächtig wie, möglich den Barschen präsentieren. Die beißenden Räuber sollten die Hauptschnur ohne Widerstand durch das Blei ziehen können. Walker zog ein Birnenblei auf die Schnur. Diese Bleiform mit eingelassener Drahtöse gab es für die Paternoster-Angelei schon seit Jahrzehnten. Aber je nachdem, wie das Blei auf dem Grund lag, verkantete sich die Schnur in der Öse. Der Widerstand beim Biss war so noch größer als beim durchbohrten Kugelblei. Richard Walker kam auf eine einfache, aber geniale Lösung: Er goss ein Wirbel-Tönnchen in die Spitze des Birnenbleis. Durch das leicht drehbare Öhr konnten die Barsche nun in jede Richtung widerstandslos mit dem Köder davonziehen. Dick entwickelte auch die Form des Bleis weiter: Er gab der plumpen Birne ein bombenförmiges Äußeres. Es entstand die bis heute übliche, aerodynamische Tropfenform mit hervorragenden Flugeigenschaften. Erstmals waren zielgenaue Weitwürfe möglich, der „extreme range“-Gedanke war geboren. Man konnte die Fische nun dort beangeln, wo sie sich zuvor sicher fühlten – und arglos Futter aufnahmen.
Die Arlesey-Bombe hatte weitere Vorteile: Durch den drehbaren Wirbel kam es beim Wurf und während des Absinkens zu deutlich weniger Verwicklungen. Das Blei lag beim Flug stabil in der Luft und flatterte nicht umher. Beim Einholen vermied der Wirbel das Verdrallen der Schnur. Zudem war die schlanke Wurfbeschwerung fast hängerfrei und ließ sich leicht aus schlammigem Grund herausziehen. Im Herbst 1953 gab Walker die erste Selbstbauanleitung seiner Neuentwicklung in der Angling Times: „Einfach, aber effektiv – die Bombe kann man sich leicht selbst herstellen, indem man an ein übliches Birnenblei per Sprengring ein Wirbel-Tönnchen anbringt.“ Bilanz seiner Erfindung: Dick und Bob verbrachten vier Winter mit schmerzenden Tropfnasen und blaugefrorenen Zehen am Arlesey-See. Der Einsatz lohnte sich: Zwischen 1950 und ‘54 überlisteten Walker und Rutland 65 Barsche über drei englische Pfund (lb), sieben Stachelritter überschritten die magische 4-lb-Grenze. Dicks größter Barsch wog Aufsehen erregende 4 lb und 13 Unzen (2.183 Gramm), einmal fing er sogar zwei 4-Pfünder an einem Tag. Das Wasser hatte ungeheures Potenzial. Walker traute Arlesey sogar einen 7-Pfünder zu – er hatte dort koffergroße Exemplare im Sommer beim Rauben beobachtet.
Alles nur geklaut?
Walker rühmte sich jahrzehntelang als Erfinder des Wirbelbleis. Doch in den 70er Jahren ruderte er zurück. Im Buch „Successful Angling“, das er zusammen mit den Anglertitanen Taylor, Falkus und Buller veröffentlichte, erwähnen die Autoren lapidar: „Die Arlesey-Bombe, obwohl nicht von Richard Walker erfunden, wurde in den frühen 1950er Jahren von ihm verbessert und populär gemacht. Zum ersten Mal in der Angelgeschichte wurde ein Grundblei unter Berücksichtigung der relevanten aerodynamischen Probleme konzipiert.“ Was war geschehen? Hatte irgendein neunmalkluger Angelhistoriker in seiner Bibliothek gewühlt und eine frühere Erwähnung des Wirbelbleis aufgetan? Selbst Walker verrät in keiner Zeile den wirklichen Erfinder. Die Gerüchteküche brodelte, ein gewisser A.J. Rudd wurde als Top-Favorit gehandelt. Schon 1935 soll der Leiter der Fischereibehörde Norfolk die Idee gehabt haben, ein Birnenblei mit einem Wirbel zu versehen. Sollte Walker nur die Verbesserung des Birnenbleis hin zur perfekten Stromlinienform bleiben? 1983, zwei Jahre vor seinem Tod, schrieb Walker einen Leserbrief an die Angling Times. In einem Artikel wurde dort sein enormer Beitrag zur Entwicklung der modernen Angelei angezweifelt. Der alte Mann schmetterte 26 Glaubenssätze in die anglerische Öffentlichkeit, als würde er sie in Marmor meißeln: „Wer erfand denn die Arlesey-Bombe, die man jetzt in jeder Angler-Box finden kann?“ Seine Aufzählung wollte kaum enden – er hatte die erste spezielle Karpfenrute der Welt gebaut, den elektronischen Bissanzeiger erfunden, den v-förmigen Rutenhalter entwickelt, den ersten Segelschwimmer konzipiert, das Schnurlaufröllchen gefordert, knotenlose Setzkescher erdacht, die weltweit erste Forelle auf eine Kohlefaserrute gefangen…
Ach ja, ganz nebenbei landete er 1952 noch den englischen Rekordkarpfen. Doch seine wichtigste Heldentat: Walkers Ansatz, Großfische einer Art gezielt und mit Planung zu fangen, war die eigentliche Revolution – er hatte das „Specimen Hunting“ (Zielfischangeln) aus der Taufe gehoben. Zuvor ging man jahrhundertelang einfach los und angelte auf alles, was anbiss.
Und Arlesey? Schon gegen Ende der 50er Jahre war es aufgrund einer englandweit grassierenden Barschkrankheit mit den kapitalen Stachelrittern in der Tongrube vorbei. Später wurde sie als Karpfen-Gewässer bewirtschaftet, heute ist das vielleicht berühmteste Angelgewässer der Welt zugeschüttet. Die Bombe teilte ein ähnliches Schicksal: Die Hersteller hielten sich nicht an Walkers Vorgaben, ein spitzes, bombenförmiges Blei zu gießen. Es blieb bei der alten, plumpen Birne – nur mit eingegossenem Wirbel. Walker bedauerte: „Ich bin sehr betrübt, wenn ich sehe, was heutzutage in den Angelläden als Arlesey-Bombe verkauft wird. Diese Bleie sehen sehr seltsam aus, sie ähneln kein bisschen meiner ursprünglichen, korrekten Form.“ Walkers vollkommene Bombe wurde erst in den 80er Jahren mit dem Zip-Blei der Boilieangler perfekt verwirklicht.
Im Juni-Heft 2007 verrät Ihnen Thomas Kalweit, wer zum ersten Mal Mais aus der Dose auf einen Angelhaken steckte.
Fotos: Thomas Kalweit