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Richard Walker: Gottes Angler auf Erden

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Am 29. Mai 1918 erblickte in der Fishponds Road in Hitchin bei London der bedeutendste Angler des 20. Jahrhunderts das Licht der Welt. Sicher kein Zufall, dass sein Geburtshaus in der Fischteich-Straße lag…

Angebunden an Bäume und Büsche des Themse-Ufers verbrachte der kleine Richard Stuart Walker, genannt „Dick“, seine früheste Kindheit. Denn nur gesichert mit der langen Leine, durfte er ab seinem vierten Lebensjahr den Opa zum Fischen begleiten. „Stell’ Dir vor, der Fisch hat eine Pistole. Wenn er zuerst Dich sieht, dann schießt er Dich tot!“ Diese martialische Anglerregel prägte der Großvater, ein ehemaliger Soldat, dem Jungen ein. Richard wird sie sein Leben lang beherzigen: Beim Döbelfischen robbte er noch im hohen Alter wie ein Indianer zum Bach. Beim nächtlichen Karpfenansitz rauchte er hinter vorgehaltener Hand, der glühende Lichtpunkt sollte keinen Rekordfisch erschrecken.
Aus dem kleinen, angebundenen Kerl in der Uferböschung sollte der wahrscheinlich einflussreichste Angler aller Zeiten werden. Walker fing in seinem Leben Fische wie zuvor kein zweiter: über 50 zweistellige Barben, Hunderte Schleien über 5 Pfund, 50 Döbel über 6 Pfund, den britischen Rekordkarpfen, den inoffiziellen Barsch- und Regenbogenforellen-Rekord, unzählige Bachforellen bis 12 Pfund… Er bewies eindrucksvoll, dass man gezielt große Fische fangen kann. Zuvor hielt man den Fang eines Kapitalen für reines Glück oder göttliche Fügung. Walker machte aus der irrationalen Kunst des Angelns die rationale Wissenschaft des Fangens!
Er plante seinen Angelerfolg bis ins Detail. Er baute sich die ersten brauchbaren elektrischen Bissanzeiger, war federführend bei der Entwicklung der ersten Kohlefaser-Fliegenrute. Auch der V-förmige Rutenhalter geht auf sein Konto, der Run-Clip, Großfischkescher, das birnenförmige Wirbelblei, das Schnurlaufröllchen, die Segelpose, knotenlose Netze, der Grinner-Knoten…

Angelnder Tausendsassa

Der 18-jährige Dick Walker studierte ab 1936 Ingenieurwissenschaften in Cambridge. Während des Studiums verdiente er sich sein Geld als Auto- und Tellerwäscher, Fabrikarbeiter und Techniker bei einem Radiosender. Auch versuchte er sich als Angelautor. Es ging viel Zeit für Nebenjobs drauf, auch fischte er wohl zuviel am Flüsschen Cam: Walker machte nie einen Abschluss. 1939, bei Kriegsausbruch, endete seine Studienzeit. Jetzt kamen ihm seine Erfahrungen als Hobbyfunker und Radiotechniker zugute. Beim „Royal Aircraft Establishment“ in Farnborough wirkte er als Techniker bei der Entwicklung des Radars mit.

Gleich nach dem Krieg wechselte er zu Lloyds & Co. in Letchworth, in die Rasenmäherfabrik seiner Mutter. Dort war er ab 1951 Technischer Direktor, ab 1955 sogar General Manager. Hier wurden nicht irgendwelche Mähmaschinen gebaut, Walker fertigte Spezialgeräte für Golf-, Tennis- und Cricket-Plätze. Er selbst sprach vom „Rolls Royce unter den Rasenmähern“! Viel Zeit für Llodys hatte Dick Walker allerdings nicht, denn die Nächte schlug er sich an den Karpfenweihern der Umgebung um die Ohren. Erst zwei Jahre angelte er auf Karpfen, in einer dunklen Septembernacht 1952 war es dann soweit: Walker fing die 44-pfündige „Clarissa“ im Redmire Pool. Dreißig Jahre lang hielt er mit diesem Fisch, den er nach dem Fang dem Londoner Zoo zu Verfügung stellte, den britischen Karpfenrekord. Vor Clarissa galt übrigens noch ein Zehnpfünder als Fisch des Lebens, 20-pfündige Karpfen hatten den Nimbus der Unfangbarkeit. Walkers Rekordfang läutete die Ära der modernen Angelei ein.
Um diesen Fisch gezielt fangen zu können, baute sich Walker spezielle Ruten mit zahlreichen Prototypen, färbte seine Schnur mit Silbernitrat, tüftelte elektrische Bissanzeiger aus, einen Großfischkescher und die ersten speziellen Karpfenhaken.
Walker befand sich auf dem Zenit seiner Schaffenskraft. Zeitgleich schrieb er an einem epochemachenden Angelbuch: Mit „Still-Water Angling“ begann 1953 das Zeitalter des Specimen Huntings. Ohne dieses Buch wäre die moderne Angelei nicht das, was sie heute wäre. Immer noch das beste Werk zum Thema – bereits 1954 erschien die holländische Übersetzung, eine deutsche Version gab es nie. Walker prägte die frühe Karpfenangelei wie kein zweiter, obwohl er nur von 1951 bis 57 intensiv auf Karpfen fischte. Nach seinem Rekordfang langweilten die Bartelträger ihn.
Alles was Dick Walker machte, trieb er zur Perfektion – Beispiel Rutenbau: Bei der Firma Allcocks besorgte er sich den besten Tonkin-Bambus. Mit seinem alten Professor, einem Brückenbauingenieur aus Cambridge, berechnete er die perfekte Verjüngung. Er baute sich die passenden Werkzeuge und schrieb selbstredend ein Büchlein darüber. Seine „Mk IV“ wurde eine der besten Ruten aller Zeiten, die erste spezielle Karpfenrute überhaupt. Heute werden die wenigen Exemplare von ihren glücklichen Besitzern wie Augäpfel gehütet. Bekannt wurde Walker übrigens nicht als Karpfenangler, zuallererst machte er als Barschangler Furore: Er entwickelte dafür die Arlesey-Bombe. Zusammen mit einem Angelkollegen fing der dank dieses aerodynamischen Wirbelbleis 65 Barsche über drei Pfund.

Angling’s Mastermind

Auf viele seine Zeitgenossen wirkte Walker übermenschlich, als sei er von einem anderen Planeten herabgestiegen: Er spielte sehr gut Fußball und Cricket, auch boxte und jagte er. Er war leidenschaftlicher Vogelkundler und interessierte sich brennend für Urgeschichte. Er präparierte Fische, war begeisterter Hobbyfotograf, spielte Gitarre, sang und dichtete. Doch damit nicht genug: Er hatte ein fotografisches Gedächtnis, kannte viele Angelklassiker fast auswendig. Sein messerscharfer Verstand machte Unterhaltungen mit ihm nicht immer zum Vergnügen: Einer hatte immer Recht, Walker.

Auch züchtete er mit Hingabe Kaninchen, aber nicht nur einfach so. Er gewann mit seinen „Belgischen Riesen“ zahllose Preise, büffelte Genetik und Vererbungslehre – so lange bis er ein 16-pfündiges Karnickel „erschaffen“ hatte. „Laura“ wurde dreifacher englischer Champion. Walker züchte übrigens auch Hühner, Schildkröten und Siam-Katzen. In all diesen Nebensächlichkeiten zeigt sich Walker wichtigster Charakterzug – alles was er machte, machte er perfekt: Er züchtete Kaninchen, wie viele andere – und schrieb ein Buch über die „Flemish Giants“. Er bastelte als Hobbyfunker herum – und entwickelte an vorderster Front das Radar. Andere Männer heiraten eine Frau – er ehelichte Patricia Marston, die Tochter des Herausgebers der weltweit berühmtesten Angelzeitung, der „Fishing Gazette“. Er angelte – und „stellte die Angelei auf den Kopf und krempelte ihr Innerstes nach außen“, wie Peter Stone es einmal ausdrückte. Nicht umsonst bekam Walker den Spitznamen „Dick God“, Gott unter den Anglern.

Angelgott mit Fehlern

Kaum eine Geschichte beschreibt den Charakter Walkers besser als diese: In seinem Garten stand ein Schuppen, vollgepackt mit Angelgerät. Hier baute er Ruten, bastelte Posen, goss Bleie. Ein angelnder Nachbarjunge besuchte ihn dort regelmäßig, der Kleine staunte über die Werke des Meisters. Doch damit nicht genug: Jede Woche gab Walker dem Jungen ein Buch aus seiner großen Angelbibliothek mit auf den Weg, ein spezielles Kapitel musste sein Schüler sozusagen als Hausaufgabe durcharbeiten. Die Prüfung folgte in der nächsten Woche, Walker vergab Noten und Punkte. Hatte der Junge eine bestimmte Punktzahl erreicht, schenkte er ihm ein paar selbstgebaute Posen oder eine Angelrolle. So ernsthaft, fast schon akademisch ging Walker an die Angelei heran – für wirklich Interessierte tat er alles. Und sein Einsatz lohnte sich, aus dem büffelnden Knaben wurde einer der besten englischen Angler und Rutenbauer, Alan Brown.
Dick Walker schrieb Tausende Briefe, die von den glücklichen Besitzern noch heute wie Schätze gehegt werden. Er beantwortete jedes Schreiben in großer Ausführlichkeit, oft auch mit druckreifen Zeichnungen und Gewässerskizzen, gleichgültig ob ein Schuljunge, eine Anglerberühmtheit oder ein Tierrechtler der Absender war. Im Schnitt erhielt er täglich 10 Briefe, die er alle, in der Regel mehrseitig, beantwortete.
Dicks Charakter war aber auch zwiespältig: So charismatisch, humorvoll, freigiebig und hilfsbereit er auf der einen Seite war, so unglaublich arrogant, verletzend und besserwisserisch konnte er auf der anderen Seite sein. Sein Überlegenheit ließ er viele spüren. Der angelnde Titan hatte weitere Schwächen: Der Kettenraucher konnte sich fürs Meeresangeln nie begeistern. Zu Hechten und zum Bootsangeln hatte er ein gestörtes Verhältnis.
Auch irrte der Meister – zugegeben, in wenigen Punkten: So ignorierte er zeitlebens den durchschlagenden Erfolg von Partikelködern und Boilies zum Karpfenfang. Bis zu seinem Lebensende beharrte er darauf: Große Karpfen wollen große Köder, Kartoffeln oder Teigknödel. Eine Fehleinschätzung, wie wir heute wissen. Auch anderen neuen Entwicklungen wollte er nicht folgen: Er setzte auf „freelining“, das Karpfenangeln ohne Bleibeschwerung. Die Erfolge des Festbleis und der Sofortanschlagmontage wollte er nicht wahrhaben.

Macht des Wortes

Seinen ersten Angelartikel veröffentlichte Walker mit 14 Jahren in einer Schülerzeitschrift, seinen letzten 1983 in der Angling Times. 51 Jahre wirkte er als Angelschriftsteller. Sogar unter Pseudonymen wie „Water Rail“ und „L.O. Mycock“. Drei Jahrzehnte lang schrieb er die wöchentliche Kolumne „Walker’s Pitch“ für die Angling Times, meterweise erstklassige Angelliteratur. Zusammengefasst wohl die größte Abhandlung, die je über die Angelei geschrieben wurde. Artikel diktierte er seiner Sekretärin in der Rasenmäherfabrik, fünf Minuten und alles war erledigt. Zusätzlich hatte er noch eine regelmäßige Kolumne in der Tageszeitung „London Evening Star“, als Angler trat er im Fernsehen auf und war in Radiosendungen zu hören.

Und natürlich schrieb er Bücher wie „Still-Water Angling“, „No Need to Lie“, „Drop me a Line“ und „Walker’s Pitch“. Nur letzteres liegt in einer deutscher Übersetzung vor: „Kapitale Fische, reiche Beute“ aus dem Paul Parey Verlag.

Fliegenfischen als Finale

In den 1960er Jahren verschrieb sich Walker der Flugangelei, vor allem der in England populären Stillwasserfischerei auf Forellen. Er entwickelte mit Hardy die ersten Kohlefaserruten für diesen Zweck, die erste Fliegenrute der Welt aus Karbon.

Walker erdachte zahlreiche Fliegenmuster, die noch heute in vielen Dosen zu finden sind. Klassiker wie Dambuster, Walkers Mayfly Nymph, Hawthorn Fly, Daddy-long-legs, Sweeney Todd, Polystickle, Perch Fry Streamer… sind noch heute ein Begriff. Von ihm handgebundene Exemplare hängen eingerahmt im Fliegenfischermuseum des Flyfishers’ Club in London.
Bereits im zarten Alter von 7 Jahren begann er mit der Fliegenfischerei und -binderei. Walker war wohl einer der ersten, der synthetische Materialien wie Kunststoff-Folien und Schaumstoff zum Fliegenbinden einsetzte. Der Querdenker räumte damit gründlich in der verstaubten Binder-Szene auf. Er bastelte sich sogar eine Fliege aus einer lackierten Zigarettenkippe – und fing damit. Dick Walker erfand die Angelei komplett neu. Durch seine Herangehensweise kapitale Fische einer bestimmten Art gezielt zu beangeln, löste er weltweit eine regelrechte Revolution aus. Tausende „Specimen Hunting Groups“ gründeten sich allüberall. Begriffe wie Technik, Planung, Taktik und Strategie nahmen Einzug in das anglerische Gedankengut. Der „denkende Angler“ war geboren, vor Walker noch ein Widerspruch in sich.
Richard Walker starb am 2. August 1985 mit 67 Jahren nach langem Leiden an Krebs. Ein Schock ging durch die Angelwelt, es würde nie mehr so sein wie vorher… „Er war der klügste Kopf, den die Angelei jemals hatte. Er war der einflussreichste Angler aller Zeiten“, schrieb Chris Yates in einem Nachruf.

Walker-Zitate:

– „Sehr viele Angler sind schlecht informiert und träge; sie angeln zur falschen Zeit an der falschen Stelle, mit dem falschen Gerät und dem falschen Köder. Sie tragen die falsche Kleidung und fischen mit den falschen Methoden. Als komplette Versager und ohne Fisch meinen sie dann: ‚Oh, da sind aber kaum noch Fische im Fluss, es braucht dringend Neubesatz!“

– „Geistige Faulheit ist der Tod jeder Angelmethode.“

– „Die Auffassung, dass ein Karpfen von 20 Pfund 10 Gramm ein großer Triumph sei, man sich aber über ein Karpfen von 19 Pfund 490 Gramm eigentlich schämen müsse, ist handfester Unsinn. Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem Angler ihr Glück davon abhängig machen, ob ein Fisch vor dem Kescher zehn oder zwanzig Gramm Scheiße verliert oder nicht.“

– „Ein guter Angler muss keine Geduld haben, was er braucht, ist kontrollierte Ungeduld.“

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