Deutscher Karpfenangler in den 30er Jahren: Viel hat sich nicht verändert. |
Die moderne Karpfenangelei wurde vor über 70 Jahren in Deutschland entwickelt!
Von Thomas Kalweit
Die Welt ging lange Jahre davon aus, dass Boilie samt Haarmontage von den Engländern erfunden wurden. Fred Wilton machte in den 1970er Jahren die harte Köderkugel auf der Insel populär, wenige Jahre später tüftelte Len Middleton dann noch die geniale Haarmontage aus. So dachte man jedenfalls bis vor wenigen Jahren. Dann stöberte ein englischer Angeljournalist erstmals in französische Fischereiliteratur. Beim Durchforsten fand er in den Büchern der Karpfenangler-Legende Raoul Renault die angeblich englischen Erfindungen schon 40 Jahre früher: harte Köderkugeln, angeboten am Haar und sogar die Selbsthakmontage, und das alles bereits in den 1930er Jahren!
Und jetzt eine kleine Sensation! Nicht nur die Franzosen hatten die Einfälle der Angelsachsen vorweggenommen, auch die Sachsen selbst. 1941, mitten im 2. Weltkrieg, berichtete Karl Schwarze vom Anglerverein Freital im Erzgebirge in der Zeitschrift „Der Angelsport“: „In den Talsperren bei Dresden haben wir einen guten Bestand an großen Karpfen und da dürfte es manchen Sportfreund interessieren zu erfahren, wie wir den Karpfen auf den Leib rücken. Eine aufgequollene, wenig gekochte Viktoriaerbse oder Maiskorn wird mittels einer Nähnadel auf einen weißen Zwirnfaden gezogen und im Bogen des großen Hakens festgebunden, wie beiliegende Zeichnung zeigt. Dabei liegt der ganze Haken frei, was dem Karpfen nichts ausmacht, denn er kennt doch den Haken als solchen nicht. Wir Dresdner Talsperrenangler benützen auf Karpfen fast immer die starke Grundangel mit ziemlich schwerer Bleibelastung und legen die Schnur bei eingestellter Knarre immer straff aus. Um den Haken herum wird mit einem Wurfapparat das Futter als Lockmittel gestreut. Wenn nun der Karpfen beim Futtersuchen die Erbse mit dem Haken einsaugt, hakt er sich selbst fest, weil er den scharfen Haken nicht so leicht ausspucken kann.“
Die Dresdner Angler hatten damals nicht nur das Haar erfunden – sie fischten auch schon mit Mais, ein Partikelköder, der in England unter Karpfenanglern erst nach dem Krieg populär wurde. Zusätzlich erdachten die Angler aus dem Erzgebirge noch den Boltrig, die Selbstanschlagmethode mit Festblei, die Rod Hutchinson in England erst Jahrzehnte später erdachte. Und im Grunde hatten die Freitaler Karpfenspezis in den 1930er Jahren auch die Baitrunner-Rolle und irgendetwas wie das Wurfrohr entwickelt.
Alles schon da gewesen
Für den Chefredakteur von „Der Angelsport“, Paul Rauser, war die Dresdner Karpfenmethode schon 1941 ein alter Hut. Er kommentierte den Lesertipp von Karl Schwarze wie folgt: „Als mir Freund Haffke aus Dresden den im vorigen Oktoberheft wiedergegebenen Aufsatz ‚Ober- und Niederwartha’ einsandte und ‚die von einem bekannten Dresdner Angler erdachte Methode einer Karpfenangel’ beschrieb, da antwortete ich Sportkamerad Haffke, dass schon die alten Chinesen in dieser Art auf Karpfen geangelt hätten. Auch entsänne ich mich, vor längeren Jahren eine Mitteilung erhalten zu haben, in der eine – meiner Meinung nach ungarische – Methode beschrieben war, zu der ein sehr scharfer Haken, ein oder mehrere daran gebundene Maiskörner, ein kurzer Vorschlag und ein schweres Blei nötig waren, das am Ende des Vorschlages fest angebracht war.“ Hutchinsons Sofortanschlag-Methode mit Partikelködern am Haar gab es also schon längstens in der Vorkriegszeit, und schon damals wurde auf Karpfen mit so kurzen Vorfächern wie heute gefischt.Paul Rauser hielt nicht viel von der neuen Methode der Angler an den Talsperren Ober- und Niederwartha bei Dresden, denn sie ist „tatsächlich nichts anderes als eine Setzangel und somit keine Bereicherung der allgemeinen sportlichen Technik.“ Heute hört man ältere Angler über die Boilie-Spezialisten ähnlich schimpfen, das sei kein Angeln sondern Fallenstellen.
Auch noch der Boilie
Doch damit nicht genug! Unter der Überschrift „Ein neuer Grundköder“ berichtete die Zeitschrift „Der Sportfischer“ im März 1934: „Karpfen und Schleie nehmen harte Kartoffeln überhaupt nicht und auch so vorsichtig, dass ein Anhieb meistens nicht erfolgen kann. Allen diesen Misshelligkeiten kann man dadurch aus dem Wege gehen, dass man nicht mit gekochter Kartoffel, sondern mit Kartoffelklößen angelt, die man folgendermaßen herstellt. Etwa 4 – 5 in der Schale gekochte Kartoffeln werden abgeschält und auf einem Reibeisen gerieben. Der so gewonnene Teig wird, mit etwas Fett und einem Löffel Kartoffelmehl vermischt, durchgeknetet, bis er sich gut von den Fingern löst. Nun formt man kleine Kugeln, evtl. auch etwas größere, wie man sie beim Angeln auf Karpfen, Schleie, Bleie und Plötzen usw. verwenden will. Diese fertigen Kügelchen lässt man in kochendem Wasser aufkochen, bis sie an der Oberfläche schwimmen. Mit einem Schaumlöffel werden sie nun herausgenommen und man lässt sie auf einem Teller abtrocknen.“ Die „Erfindung“ des modernen Boilies von Fred Wilton aus dem Jahr 1972 liest sich auch nicht viel anders: „Teig, angemischt mit Eiern und leicht gekocht, bildet eine Haut aus, die Fische, wie Rotaugen und Brassen, daran hindert, ihn wegzuknabbern.“ Der einzige Unterschied zum deutschen Boilie: Für Eier im Angelköder war man bei uns kurz nach der Weltwirtschaftskrise wohl zu arm oder zu geizig. Sie hätten die Kartoffelklößchen sicher fängiger und stabiler gemacht.Worin liegt denn überhaupt der Verdienst der englischen Karpfenangler in den 1970er Jahren? Sie kombinierten den Boilie mit Boltrig und Haarmontage! Auf diesen genialen Kniff war man in Deutschland noch nicht ganz gekommen.
Einfach vergessen?
Warum hat sich die revolutionäre Dresdner Karpfen-Methode in Deutschland nicht durchsetzen können? Zum einen fing unsere Angelei nach dem Krieg quasi bei Null wieder an, viele alte Methoden gerieten in Vergessenheit, Angelbücher und Zeitschriften waren in den Bomben verbrannt, erfahrene Angler im Krieg gefallen.
Doch das Haar geriet nicht ganz in Vergessenheit – 1965 berichtet Horst E. Rudolph im „Jahrbuch des Sportanglers“ der DDR: „Hier will ich noch einmal die Kartoffelköderung für die Karpfenangelei erläutern, die bei uns fast ausschließlich, und zwar mit besonderem Erfolg verwendet wird. Von einer gelbfleischigen Kartoffel wird ein würfliges Stück (etwa 7 bis 10 mm Kantenlänge) geschnitten und mit einem weißen Heftfaden über Kreuz verschnürt und mit der Verschnürung an einen Flachstahlhaken der Größe 7 gehängt.“ Allerdings fischte Rudolph mit leichtem Blei, lockerer Schnur und extrem langem Vorfach. Das Erfolgsrezept, die Sofortanschlagmethode seiner Dresdner Vorfahren, war im Trubel der Zeit verloren gegangen.