Eine Studie der Universität Tübingen führt zur Senkung des EU-Umweltgrenzwertes für das Schmerzmittel Ibuprofen.
Abhängig vom Säuregehalt des Wassers kann die Giftigkeit von Chemikalien in Gewässern um mehrere Größenordnungen variieren. Das ergab eine Studie unter der Leitung von Professor Heinz Köhler vom Institut für Evolution und Ökologie der Universität Tübingen mit Forscherinnen und Forschern der Universitäten Tübingen und Athen sowie des Umweltbundesamts. Das Team prüfte die Wirkung von 24 größtenteils als Medikamente eingesetzten Stoffen auf die Entwicklung von Fischembryonen in realitätsnahen Szenarien. Es erarbeitete ein Modell für die zuverlässige Vorhersage der Giftigkeit von ionisierbaren Chemikalien in Gewässern. Die Ergebnisse wurden Ende 2022 von der EU-Kommission für die Ableitung eines im Rahmen der Wasserrahmenrichtlinie bedeutenden Grenzwertes, der Umweltqualitätsnorm, für den Arzneimittelwirkstoff Ibuprofen berücksichtigt. Veröffentlicht ist die Studie in der Fachzeitschrift Water Research.
Medikamente gelangen unverändert in Gewässer
Zur Gewährleistung der Wirksamkeit von Medikamenten soll der menschliche Körper die Wirkstoffe in der Regel nicht abbauen. Deshalb wird der größte Teil nach Einnahme häufig wieder unverändert ausgeschieden. Aufgrund der steigenden Medikamentennutzung im Zusammenhang mit dem demografischen Wandel gelangen immer größere Mengen zahlreicher unterschiedlicher Stoffe über das Abwasser in Gewässer und in die Umwelt.
Die in der Studie untersuchten Stoffe wie die Schmerzmittel Diclofenac und Ibuprofen, der Cholesterinsenker Clofibrinsäure und der Betablocker Metoprolol sind ionisierbare Moleküle, sie können also in neutraler oder elektrisch geladener Form vorliegen. Natürliche Gewässer können wiederum verschiedene Säure-Base-Verhältnisse, gemessen als pH-Wert, aufweisen. „All diese Faktoren haben Einfluss auf die Aufnahme der Stoffe in die Zellen von Lebewesen, die sie schädigen können“, erklärt Heinz Köhler.
Giftigkeit variiert je nach pH-Wert
Als Testorganismus diente der Zebrabärbling, dessen sich entwickelnde Eier den Chemikalien ausgesetzt wurden. Bestimmt wird jeweils der sogenannte LC50-Wert, der diejenige Schadstoffkonzentration wiedergibt, bei der 50 Prozent der Fischembryonen sterben. In der Studie testeten die Forscherinnen und Forscher die Giftigkeit – oder Toxizität – der Chemikalien bei bis zu vier verschiedenen pH-Werten von leicht saurem bis zu basischem Wasser in mehr als 1200 Einzelversuchen.
„Bei einigen Arzneimittelwirkstoffen wie zum Beispiel Diclofenac, dem Betablocker Propanolol und dem Antidepressivum Fluoxetin variierte der LC50-Wert bei den Fischembryonen mehr als tausendfach zwischen pH 5 und pH 9“, berichtet Köhler. Daher müsse man von realistischen Worst-Case-Szenarien ausgehen, damit solche Stoffe bei Freisetzung und dem Zusammentreffen der denkbar schlechtesten Bedingungen die Lebewesen in Gewässern nicht zu stark schädigten. Dabei erwiesen sich die Stoffe im ungeladenen Zustand im Durchschnitt als toxischer als in ihrer ionisierten Form.
Achtfach niedrigerer EU-Gewässergrenzwert für Ibuprofen
Basierend auf verschiedenen Annahmen, wie effektiv die jeweiligen Stoffmoleküle die Zellmembran durchdringen und welche Schadwirkung sie in den Zellen haben könnten, baute das Forschungsteam seine jeweiligen Modellierungsansätze auf. Um die Toxizität bei verschiedenen pH-Werten des Umgebungswassers zu simulieren, verglichen sie sechs mathematische Modelle. „Für die praktische Anwendung wählten wir dasjenige Modell aus, mit dem es möglich ist, die unterschiedliche toxische Wirkung auf Fische über drei Größenordnungen hinweg verlässlich nachzubilden“, sagt der Wissenschaftler.
Nach Einschätzung von Köhler und dem zweiten Hauptautor der Studie, Dr. Peter von der Ohe vom Umweltbundesamt, sollten die Studienergebnisse Auswirkungen auf die Registrierung und Autorisierung von Chemikalien in der EU sowie auf die Definition von Umweltqualitätsstandards haben. Mit dem achtfach niedrigeren EU-Gewässergrenzwert für Ibuprofen als er nach der bisherigen Methode angesetzt worden wäre, sei ein Anfang gemacht. „Diese Studie trägt dazu bei, ein besseres Verständnis für die Toxizität von ionisierbaren Stoffen zu entwickeln und hat die Vorhersage ihrer Toxizität deutlich verbessert. Wir gehen davon aus, dass unsere Ergebnisse auch künftig bei der Registrierung und Zulassung von Chemikalien berücksichtigt werden“, sagen die beiden Wissenschaftler.
-Pressemitteilung Uni Tübingen/idw-