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Turbo-Evolution: Freiwasser-Stichlinge im Bodensee

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Mit bloßem Auge lassen sich Stichlinge aus der Ufer- und Freiwasserzone nicht unterscheiden. Nur mit wissenschaftlichen Methoden ist es möglich, Unterschiede in ihrer Körperform zu identifizieren. Rechts oben: Männliche Stichlingen tragen während der Laichzeit ein farbenfrohes Brutkleid. Nach der Eiablage bewachen die Männchen das Nest mit den Eiern. Rechts unten: Seit der Ausbreitung des Stichlings in die Freiwasserzone des Bodensees kann er dort in Massen gefangen werden. Abbildung: LAZBW
Mit bloßem Auge lassen sich Stichlinge aus der Ufer- und Freiwasserzone nicht unterscheiden. Nur mit wissenschaftlichen Methoden ist es möglich, Unterschiede in ihrer Körperform zu identifizieren. Rechts oben: Männliche Stichlingen tragen während der Laichzeit ein farbenfrohes Brutkleid. Nach der Eiablage bewachen die Männchen das Nest mit den Eiern. Rechts unten: Seit der Ausbreitung des Stichlings in die Freiwasserzone des Bodensees kann er dort in Massen gefangen werden. Abbildung: LAZBW

Das plötzliche Massenvorkommen des dreistachligen Stichlings im Freiwasser des Bodensees im Jahr 2012 war nicht nur für Berufsfischer und Angler ein unerklärliches Phänomen, auch die Wissenschaft stand vor einem großen Rätsel.

Eine Erklärung war, dass eine neue genetische Variante von Stichlingen in den See eingeschleppt wurde, welche sich aufgrund ihrer spezifischen Eigenschaften erfolgreich im Freiwasser etablieren konnte. Denn vor 2012 konnte man den Stichling meist nur am Ufer des Bodensees in relativ geringen Dichten antreffen. Eine Studie der Fischereiforschungsstelle Baden-Württemberg hat nun in Zusammenarbeit mit der Universität Glasgow untersucht, ob und wie sich die Freiwasserstichlinge von ihren Verwandten am Ufer unterscheiden. Stichlinge aus verschiedenen Teilen des Bodensees und seiner Zuflüsse wurden mit Hilfe von hochmodernen genetischen Analysen untersucht. Des Weiteren wurden die Körperform der Fische und ihre äußeren Merkmale, wie z.B. die Panzerung, genauer unter die Lupe genommen.

Beginnende Aufspaltung in zwei Ökotypen

Die Ergebnisse, welche in der renommierten Fachzeitschrift „Neobiota“ veröffentlicht wurden, waren für die Wissenschaftler überraschend. Es zeigte sich, dass im Bodensee, unabhängig ob am Ufer oder im Freiwasser, nur eine gemeinsame genetische Variante von Stichlingen vorkommt. Damit kann eine erneute Einschleppung von gebietsfremden und für das Massenvorkommen verantwortlichen Stichlingen ausgeschlossen werden. Stattdessen muss die Freiwasserpopulation aus der Uferpopulation hervorgegangen sein. Dabei sind die beiden Populationen jedoch nicht komplett identisch. Die genauere Betrachtung der Daten konnte ein „polygenes Divergenzmuster“, also genetische Unterschiede an mehreren Stellen des Genoms, bei den Freiwasser- und Uferstichlingen identifizieren. Auch beim Vergleich der Körperform zeigten sich Unterschiede. Dies sind erste Hinweise für eine Aufspaltung der Stichlinge in zwei getrennte genetische Gruppen. Grundsätzlich ist das auch für Stichlinge nicht ungewöhnlich, da die Bildung von sogenannten „Ökotypen“ bei Stichlingen schon häufig beobachtet wurde. Allerdings läuft dies zumeist über Jahrhunderte bzw. Jahrtausende ab. Im Bodensee scheint die Evolution sinnbildlich gerade in ihre Sieben-Meilen-Stiefel gestiegen zu sein. Dies bietet Wissenschaftlern die spannende Möglichkeit, die ersten Schritte dieses Artbildungsprozesses „live“ zu beobachten.

Stichlings-Management zum Schutz der Felchen

Die gewonnenen Erkenntnisse sind aber nicht nur für die Wissenschaft faszinierend, sie führen auch zu direkten praktischen Konsequenzen. Der kürzlich von den Anrainerstaaten verabschiedete Drei-Punkte-Plan zum Schutz der Felchen sieht neben der Schonung der Laichtiere und einem angepassten Besatzmanagement auch die Befischung der Stichlinge vor. Nach Analyse der Autoren müssen hierbei unbedingt auch die Uferstichlinge berücksichtigt werden. Denn die Studie zeigt klar das Potential der Uferpopulation auf, immer wieder Freiwasserstichlinge „nachliefern“ zu können. Daher soll der Stichling im Bodensee als Ganzes gemanagt werden. Denn nur so besteht eine Chance, sein Massenvorkommen unter Kontrolle zu bringen. Damit verbunden ist die Hoffnung, dass es im Anschluss mit den Felchenfängen wieder bergauf geht – dies wäre sicherlich im Sinne von Fischern und Konsumenten. Die Studie ist in englischer Sprache online verfügbar…

Hintergrundwissen zum Stichling im Bodensee

Der dreistachlige Stichling (Gasterosteus aculeatus) kommt erst seit den 1950er Jahren im Bodensee vor. Er wurde vom Menschen eingeschleppt und existierte bisher meist in geringen Dichten unauffällig entlang der Uferzone des Sees. Seit 2012 konnte man ihn jedoch plötzlich in unglaublich großen Mengen im Freiwasser antreffen, wo er heute mehr als 90 % des Fischbestandes ausmacht. Die Folgen des plötzlichen Massenvorkommens sind dramatisch: der Stichling macht als direkter Nahrungskonkurrent den Felchen das Futter streitig und frisst zudem auch noch die Eier und Larven des begehrten Speisefischs. Auch aus diesem Grund brachen die Felchenerträge in den letzten Jahren fast vollständig zusammen. Diese dramatische Entwicklung gipfelte schlussendlich in einem Drei-Punkte-Plan zum Schutz der Felchen, welcher auch eine dreijährige Schonung der Felchen enthält.

-Pressemitteilung Fischereiforschungsstelle des Landwirtschaftlichen Zentrums Baden-Württemberg (LAZBW)-

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