Wie im zeitigen Frühjahr trotz guter Gewässerkenntnis und jahrelanger Erfahrung der Zufall hilft – wenn die Sinne geschärft sind und man nicht stur am Plan festhält. Von Till F. Gutzeit
Endlich hält das Frühjahr Einzug. Die Tage werden länger, die Temperaturen steigen langsam aber stetig an und die Natur wird jeden Tag ein bisschen grüner. Für mich ist das in jedem Jahr verbunden mit großer Vorfreude. Nach langen Wochen der anglerischen Enthaltsamkeit zieht es mich wieder ans Wasser. Seit vielen Jahren beginnt für mich die Saison mit dem Ansitz auf Karpfen, jedes Mal an gleicher, bewährter Stelle des Sees. Das Gewässer ist ein klassischer Baggersee, der erst seit wenigen Jahren nicht mehr ausgekiest wird und auf eine stolze Größe von knapp 55 Hektar angewachsen ist. Der See wird seit Jahrzehnten von einem Angelverein bewirtschaftet und hat einen ausgewogenen Fischbestand aller heimischen Fischarten. Karpfen kommen in guter Stückzahl vor, es sind keine Riesen zu erwarten aber Fische bis 30 Pfund sind allemal möglich.
Fußmarsch lohnt sich
Die von mir bevorzugte Stelle am Gewässer bietet einige Vorteile: Entgegen der sonstigen Ufer- und Tiefenstruktur hat der See hier einige Flachwasserbereiche, die sich schneller erwärmen können und Seerosen und anderen Wasserpflanzen die Möglichkeit zum Wachsen bieten. Die Gewässertiefe fällt stufenartig mit mehreren Kanten ab, so dass verschiedene Tiefen von dieser einen Stelle befischt werden können und man die Karpfen regelrecht auf den Plateaus suchen kann. Attraktiv wird die Stelle zudem, da sie ein wenig weiter ab liegt und nicht direkt angefahren werden kann. So ist mir auch an diesem Morgen ein kleiner Fußmarsch mit dem Gepäck vorbehalten, aber dafür auch die Gewissheit, an einer Stelle zu fischen, die weitaus weniger Angeldruck ausgesezt ist als die bequem zu erreichenden Hotspots des Gewässers.
Plan funktioniert seit Jahren
Im frühen Morgengrauen laufen die Handgriffe auch nach der längeren Pause routiniert ab, es scheint mit dem Angeln wie beim Fahrradfahren zu sein, man verlernt es nicht. Nach wenigen Minuten sind die beiden Ruten einsatzbereit. Klassische zweiteilige Karpfenruten mit Freilaufrollen, bespult mit 0,35er Monofilschnur, ein 90 Gramm Blei, selbstgebundenes Vorfach, fertig. Einfach und effektiv. Kescher und Abhakmatte liegen bereit und die Bissanzeiger sind auf den Erdspießen ausgerichtet, als ich die Ruten mit Boilies beködere. Da mir die Stelle vertraut ist und der Plan seit Jahren regelmäßig funktioniert, fliegen die Köder schnell an die angedachten Plätze. Ein Köder liegt zwischen 6 und 7 Metern tief, der andere Boilie mit seinem herrlichen Maisaroma soll einen Karpfen in knapp 9 Metern Tiefe zum Anbiss verleiten. Mal sehen, welcher Bissanzeiger diesmal zuerst auslöst, seit Jahren lieferte diese Stelle regelmäßig die ersten Fische der Saison.
Weniger ist mehr
Bevor ich es mir in meinem Stuhl gemütlich mache und den herrlichen Sonnenaufgang am Wasser genieße, kommt noch schnell ein wenig Futter auf die beiden Plätze. Auch hier gehe ich einfach und effektiv vor. Ein kleiner Eimer mit gekochtem und gequollenem Futtermais, vermischt mit ein paar geteilten und ganzen Boilies, das reicht aus. Viel Futter muss es nicht sein so früh im Jahr, den Platz mit Futter zu überladen wäre sicher kontraproduktiv. Also zwei oder drei kleine Portionen mit der Futterkelle pro Rute und dann warten was passiert.
Fehlstart mit Missgeschick
Doch während der Start in die Saison doch bisher so routiniert und beinahe wie automatisiert verläuft, folgt auch gleich das erste Missgeschick: Beim ersten Wurf mit der Futterkelle fliegt diese mir ungeschickt aus der Hand. Nur dank der Schlaufe am Handteil landet sie nicht im Wasser. Das Futter, gedacht für die etwas flacher liegende Rute, fliegt direkt vor mir ins gerade knietiefe Wasser vor einen kleineren Baum. Ich ärgere mich über meine Unkonzentriertheit und bin sicher, die Wasservögel werden den Mais dankbar vom Grund picken, wenn ich die Stelle wieder verlassen habe. Mit etwas mehr Konzentration fliegen die nächsten Ladungen dann doch an die gewünschten Stellen. Nun also nehme ich in meinem Stuhl Platz, sauge das Frühjahr dankbar mit allen Sinnen auf und warte auf den ersten Biss. Dabei blicke ich immer wieder vor meine Füße ins flache Wasser und die dort liegende Futterladung, die wohl vergeblich ihre Reise angetreten hat, um kaum Karpfen betören wird.
Staubsauger im Flachwasser
So schön der Sonnenaufgang und die Stimmung auch sind, die Karpfen scheinen noch nicht sehr aktiv zu sein. Die Bissanzeiger schweigen und nach einigen Stunden überlege ich, die Ruten ein wenig zu verlegen, um andere Wassertiefen zu befischen. In der Zwischenzeit kam ein wenig Wind auf und der leichte Wellenschlag an meiner Uferkante trübte das Wasser ein, welches aber nun wieder klarer wird. Während ich noch mit mir ringe, ob es sinnvoller wäre, die Ruten nicht doch zu am Platz zu belassen, fällt mein Blick wieder ins Wasser direkt vor mir. Und ich stutze sofort: Der Grund ist komplett abgegrast, kein einziges Maiskorn ist mehr zu sehen und auch die paar halben und ganzen Boilies sind verschwunden! Da definitiv keine Enten oder andere Vögel am Platz waren, müssen es Fische gewesen sein. Direkt vor meinen Füßen, unter der Rutenspitze in maximal 60 Zentimeter Wassertiefe. Und da die Boilies auch weg sind, fallen Rotauge und Co. als Staubsauger weg. Es müssen die Karpfen gewesen sein, auf die doch etliche Meter tiefer im Wasser meine Köder warten.
Einschlag unter der Rutenspitze
Nach wenigen Augenblicken der Verwunderung hole ich tatsächlich eine Rute ein und lege den Köder direkt unter der Rutenspitze im Flachwasser ab. Dazu werfe ich, diesmal mit der Hand, ein paar Maiskörner gezielt in diesen Bereich. Wenn da wirklich Karpfen waren, könnten die ja auch nochmal vorbeiziehen, denke ich. Hier ist der Wunsch Vater des Gedankens, ich möchte an diesem Tag nicht ohne Erfolg den Heimweg antreten. Immer noch ein wenig irritiert lehne ich mich in meinem Stuhl zurück, den ich nun der besseren Tarnung wegen noch ein Stück weiter hinter den Baum gezogen habe. Nach circa 20 Minuten weiteren Wartens schlägt es brachial in die Rute vor meinen Füßen ein. Da nicht mal eine Rutenlänge Schnur im Wasser ist kommt mir dieser Biss regelrecht wahnwitzig vor. Der Bissanzeiger schreit, die Rute biegt sich und der Freilauf tut was er muss, damit die Rute nicht im See verschwindet.
Durch Zufall zum Erfolg
Nach einem heftigen, aber kurzen Drill landet tatsächlich ein schöner Karpfen von circa 8 Pfund in den Maschen des Keschers. Nach dem Versorgen des Fanges stehe ich sprachlos am Wasser. Was für ein Einstand in die Saison. Sicher, der Fische war von der Größe her kein Riese, aber die Art und Weise des Fangs machen ihn zu einem ganz besonderen Erlebnis. Nie hätte ich damit gerechnet, zu dieser Jahreszeit im Flachwasser auf Karpfen zu treffen. Und nie hätte ich es probiert, wenn der Zufall – oder besser mein Missgeschick – mich nicht auf diese Fährte geführt hätten.
Zweiter Versuch mit Polbrille
Da ich noch eine knappe Stunde Zeit habe, beschließe ich, die Rute nochmals an diesen Platz zu legen. Oder besser gesagt, den Köder unter der Rutenspitze abzulassen. Nach dem Drill und der Unruhe am Platz gehe ich zwar nicht von einem weiteren Erfolg aus, aber man weiß ja nie. Genau dies hat mich der bisherige Verlauf des ersten Angeltages im Jahr gelehrt. Also wieder eine Hand Mais auf die Stelle, ein paar wenige Boilies und dann ruhig verhalten und warten. Die zweite Rute liegt beinah vergessen am angestammten Platz und schweigt vor sich hin. Meine Sinne sind jedoch nun aufs äußerste geschärft. Sollte sich tatsächlich nochmal Fischaktivität einstellen, müsste ich das ja eigentlich sehen. Ich hole den Polbrillen-Aufsatz aus meiner Jacke und stecke ihn auf die Brille. Ganz klar erkenne ich im ansonsten spiegelnden Wasser die einzelnen Maiskörner, die Boilies und meinen Hakenköder. Auch das graue Blei ist gut zu erkennen. Die Montage liegt perfekt getreckt, wie im Bilderbuch des Karpfenfischens, daneben ein paar lockende Häppchen.
Der Atem stockt
Wie gebannt schaue ich ins Wasser und nach wenigen Minuten schieben sich mehrere schwarze Schatten langsam aus der Bucht in den heißen Bereich meiner Rute. Tatsächlich kommt der Schwarm Karpfen nochmals an den Platz! Ich sinke in Zeitlupe aus meinem Stuhl auf die Knie und beuge mich leicht nach vorne. Die Karpfen saugen in rasantem Tempo jedes einzelne Maiskorn mit einer beeindruckenden Präzision ein. Ein Fisch aus dem Trupp schiebt sich genau in Richtung meines Köders. Mir stockt der Atem, mein Körper ist voller Adrenalin. Wie ein Cowboy im Western, bereit zum Duell, führe ich meine Hand über den Rutengriff, bereit sofort zu reagieren. Und der Karpfen fordert diese Reaktion: Er saugt den Boilie ein, will ihn wieder ausspucken und die Falle der Selbsthakmontage schlägt unnachgiebig zu. Der Fisch schüttelt heftig den Kopf und prescht vom Platz. Doch der Haken tut was er soll, er sitzt fest in der Unterlippe, ich habe sofort die Rute in der Hand und kann den Fisch drillen und landen. Überglücklich versorge ich den Fisch und kann das Erlebnis auf mich wirken lassen. Wie in Zeitlupe sehe ich immer wieder die Sekunden vor dem Drill vor meinem geistigen Auge. Noch nie konnte ich live sehen, wie die Karpfen einen Futterplatz abgrasen und einen Köder am Grund einsaugen. Noch nie habe ich so gebannt einen Biss kommen sehen.
Fehler können sich auszahlen
Ich freue mich sehr über meinen Fehler beim Anfüttern und die Umstände, die mir diese beiden Fische beschert haben, zwei schöne Karpfen um die acht Pfund. Eigentlich keine Ausnahmefische, aber durch das Erlebnis der schönste Saisonstart, an den ich mich erinnern kann. Aufmerksamkeit macht sich auch und gerade beim Angeln bezahlt – wie auch die Bereitschaft, Neues zu probieren. Zum Beispiel im zeitigen Frühjahr im Flachwasser gezielt auf Karpfen zu fischen. Was ich sicherlich beim nächsten Saisonstart wieder probieren werden – auch ohne vorherigen Futterpatzer. Mit Festhalten an der altbewährten Taktik wäre dieser Tag ein Schneider-Auftakt in die Saison geworden, also: Aufmerksam bleiben!
Till F. Gutzeit