Groß Glienicker und Sacrower See in der Region Berlin-Brandenburg liegen nur wenige hundert Meter voneinander entfernt, aber die Schwankungen ihres Wasserspiegels sind sehr unterschiedlich. Fachleute versuchen, das rätselhafte Verhalten der Gewässer zu ergründen.
Es begann vor etwa zehn Jahren. Seither nimmt der Wasserstand des Groß Glienicker Sees Jahr um Jahr ab. Der Rückgang seines Wasserspiegels summiert sich seit etwa 2013 mittlerweile auf anderthalb Meter. Der Steg der DLRG-Station am südöstlichen Ufer führt nicht mehr auf den See hinaus. Die Pfeiler stehen im Trockenen. Es ist, als ob der See seinem Dasein entsagen möchte.
Diese Pathetik ist Dieter Scherer fern. Als Wissenschaftler stellt er Fragen: Was führte vor zehn Jahren zu dieser Veränderung? Warum sinkt der Wasserspiegel? Um diese Fragen zu beantworten, analysiert der Professor für Klimatologie die Klimadaten für den Groß Glienicker See der vergangenen 40 Jahre wie Wind, Temperatur, Niederschlagsmenge und die aktuelle Evapotranspiration. Unter aktueller Evapotranspiration versteht man die Gesamtheit des verdunsteten Wassers von Gewässern, Böden und anderen Landoberflächen sowie das von Pflanzen durch Transpiration in die Luft abgegebene Wasser. Es ist ein extrem wichtiger Wert für das Verständnis des sinkenden Seespiegels: Der am westlichen Stadtrand Berlins gelegene Groß Glienicker See ist ein sogenannter Landsee. Das heißt, er hat keinen oberirdischen Zufluss durch ein Gewässer. Somit wird er im Wesentlichen durch Niederschläge und Grundwasser gespeist. Über dem See verdunstet aber vor allem im Sommerhalbjahr Wasser, und es fließt auch ein Teil des Seewassers als Grundwasser wieder aus dem See heraus. Neben Daten zu den Grundwasserströmen sind somit auch Daten zur aktuellen Evapotranspiration im gesamten Gebiet, das den See durch die Neubildung von Grundwasser beeinflusst, erforderlich, um die Änderung der im See befindlichen Wassermenge berechnen zu können.
Messstation wird dringend benötigt
Aber die aktuelle Evapotranspiration ist extrem schwer zu messen. „Derzeit nutzen wir die Daten zur aktuellen Evapotranspiration unter anderem vom Meteorologischen Observatorium in Lindenberg und vom Stadtklimaobservatorium in Berlin“, sagt Prof. Dr. Dieter Scherer und fügt an: „Für unsere Forschung benötigen wir dringend eine Messstation über dem Groß Glienicker See oder dem benachbarten Sacrower See.“ Denn für den TU-Wissenschaftler ist ausgeschlossen, dass er sich ohne diese Daten einer Berechnung bedient, die die komplexen Zusammenhänge beiseitelässt und auf diesen Kurzschluss hinausläuft: Die Evapotranspiration nimmt zu, weil die Temperaturen steigen. Scherer: „Selbst wenn Fachleute dies wieder und wieder so sagen. Die Aussage ist in dieser Form falsch.“
Mit einer speziellen Technik wurden an seinem Fachgebiet die Klimadaten der vergangenen 40 Jahre berechnet und ausgewertet. Das Ergebnis: „Sie zeigen erstens einen nicht wegzudiskutierenden Trend hin zu steigenden Temperaturen, zweitens schwankende Niederschläge, an denen sich aber kein belastbarer Trend ablesen lässt, und drittens Schwankungen des Wasserspiegels wie sie aufgrund der Regenfälle und der aktuellen Evapotranspiration erwartbar sind“, so Scherer. „Doch vor etwa zehn Jahren veränderte sich der Wasserhaushalt des Sees. Der Wasserspiegel schwankt nach wie vor gemäß den aktuellen Wetterbedingungen. Es fließt aber im Vergleich zu früher weniger Grundwasser in den See hinein oder mehr als früher aus dem See heraus. Und diese Veränderung verstehen wir bislang nicht.“
Mit dem Klimawandel allein nicht zu erklären
Hinzukommt, dass der nur zwei Kilometer südlich vom Groß Glienicker See gelegene Sacrower See sich anders „verhält“. Zwar fällt sein Wasserspiegel auch, aber längst nicht so dramatisch. „Das heißt, wir beobachten am Groß Glienicker und Sacrower See Phänomene, die mit dem Klimawandel allein nicht hinreichend zu erklären sind. Denn es ist einfach nicht plausibel, dass der Klimawandel auf nur wenigen hundert Metern so unterschiedliche Auswirkungen zeitigen soll. Es müssen demnach noch andere Faktoren eine Rolle spielen“, sagt Dieter Scherer.
Eine Hypothese der Fallstudie ist, dass sich die Grundwasserströme im westlichen Teil des Einzugsgebiets des Groß Glienicker Sees verändert haben und das Wasser, was früher zum See floss, nun Richtung Nauen, also nach Nordwesten strömt. „Dort befindet sich ein sehr stark wasserdefizitäres Gebiet“, so Scherer. Eine andere Hypothese bringt den bislang unerklärlichen Wasserschwund des Groß Glienicker Sees mit der Regulierung des Wasserstandes der Havel in Verbindung. Eine weitere Vermutung ist, dass zu viel Grundwasser für die Gewinnung von Trinkwasser oder für Bewässerung entnommen wird. Diesen Hypothesen auf den Grund zu gehen – damit befassen sich Klimatologen, Hydrologinnen und Hydrogeologen.
Bereit, einen Obolus zu zahlen
Aber auch Sozial- und Politikwissenschaftlerinnen, Praktikerinnen und Politikerinnen sowie Bürgerinitiativen sind an der Fallstudie beteiligt. Denn die Forschungen zu den beiden Seen sind eingebettet in das Projekt „Climate and Water under Change“ (CliWaC), finanziert von der Berlin University Allianz (BUA), dem Exzellenzverbund von HU Berlin, FU Berlin, TU Berlin und Charité – Universitätsmedizin Berlin. Neben der Fallstudie „Land“ beschäftigt sich die Fallstudie „Stadt“ mit Starkregen in Berlin und die Fallstudie „Fluss“ mit den Auswirkungen des Klimawandels auf die Spree und ihr Einzugsgebiet. Ziel von CliWaC ist es, die aus Dürreperioden und Starkregenereignissen resultierenden Folgen für die Wasserressourcen in der Region Berlin-Brandenburg zu untersuchen und daraus wissenschaftlich fundierte Entscheidungen unter anderem für Maßnahmen abzuleiten, die die Folgen des Klimawandels für Mensch und Natur abmildern. „Die im Projekt involvierten Sozialwissenschaftlerinnen erfragten, inwiefern in der Bevölkerung der sinkende Seespiegel als Problem wahrgenommen wird und ob sie willens wären, eine Abgabe zu zahlen, die für Programme zur Erhaltung des Sees verwendet werden würde“, erzählt Scherer. Die Befragung ergab, dass vielen der See am Herzen liegt und sie bereit wären, einen Obolus zu zahlen. Die einen, wie zum Beispiel Grundstücksbesitzerinnen am Groß Glienicker See, weil sie einen Wertverlust fürchten. Die anderen, weil für sie die Bewahrung der Natur an sich einen Wert darstellt.