Einem Team von Forschenden aus Würzburg und Berlin ist es jetzt gelungen, das höchst komplexe, weil vielfach verdoppelte, Erbgut der Störe zu entschlüsseln.
Die Forschenden haben damit ein bislang fehlendes Puzzleteil zum Verständnis der Genomevolution der Wirbeltiere geliefert. Störe lebten schon vor 300 Millionen Jahren auf der Erde. Fossilienfunde beweisen, dass Störe sich seit 250 Millionen Jahren zumindest rein äußerlich nur wenig verändert haben. Kein Wunder, dass schon Charles Darwin sie als „lebende Fossilien“ bezeichnete.
Forschenden der Julius-Maximilians-Universität Würzburg (JMU) und des Leibniz-Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) ist es jetzt gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen in Konstanz, Frankreich und Russland gelungen, das Genom einer Störart, des Sterlets (Acipenser ruthenus), zu entschlüsseln. Sie konnten zeigen, dass sich auch das Erbgut seit der Blütezeit der Dinosaurier nur wenig verändert hat. In der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift Nature Ecology and Evolution stellen sie die Ergebnisse ihrer Arbeit vor.
Vorfahren der Wirbeltiere
„Stör-Genome sind ein wichtiges Puzzleteil, um die Abstammung von Wirbeltieren zu verstehen. Das hat uns bisher gefehlt“, erklärt Professor Manfred Schartl die Gründe, warum sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für diese Fischart interessieren. Schartl ist Hauptautor der jetzt veröffentlichten Studie und seit diesem Jahr Gastprofessor am Lehrstuhl für Entwicklungsbiochemie der JMU. Störe gehören entwicklungsgeschichtlich zu den ältesten Lebewesen auf der Erde. Sie sind die uralten Verwandten von mehr als 30.000 heute vorkommenden Knochenfischarten, und damit von mehr als 96 Prozent aller lebenden Fischarten und etwa der Hälfte aller bekannten Wirbeltierarten. Aber die Zeit scheint Störe vergessen zu haben.
Wie das Team zeigen konnte, hat sich ihre Linie irgendwann während des Oberdevon oder der Karbonzeit vor ca. 345 Millionen Jahren von der Entwicklungslinie anderer Arten abgespalten. „Dass sie sich seitdem äußerlich nur wenig verändert haben, spiegelt sich auch in ihrem Erbgut, ihrer DNA, wider“, erklärt Dr. Du Kang, Erstautor der Studie und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Biochemie und Molekularbiologie II der JMU.
Um das zu überprüfen, mussten die Forschenden einen genauen Blick auf die Proteine werfen, die von den Genen des Sterlets kodiert werden. Tatsächlich zeigen ihre Berechnungen eine extrem langsame Geschwindigkeit dieser sogenannten Proteinevolution. „Die Rate der Proteinentwicklung des Sterlets gleicht der des Quastenflossers oder der Haie – Fische, die ebenfalls seit mehr als 300 Millionen Jahren beinahe unverändert durch die Meere schwimmen“, so Dr. Matthias Stöck, Evolutionsbiologe am IGB.
120 Chromosomen, rund 47.500 proteinkodierende Gene, 1,8 Milliarden Basenpaare: Diese Werte konnte das Team für den Sterlet ermitteln. Was es ebenfalls zeigen konnte: Vor gut 180 Millionen Jahren hat sich das Erbgut des Sterlets verdoppelt, die meisten Gene werden daher vierfach abgelesen – Störe sind in der Sprache der Wissenschaft tetraploid. „Die Entwicklung des Genoms von Wirbeltieren wurde nur sehr selten durch solche Prozesse, dann aber extrem stark beeinflusst“, sagt Manfred Schartl. Schon unsere ganz alten Fischvorfahren erlebten im Laufe der Evolution zwei Runden von „Ganzgenom-Duplikationen“, aber moderne Fischarten machten diesen Prozess drei oder sogar vier Mal durch.
Überraschend war für die Forschenden die Tatsache, dass die neu entdeckte Verdopplung des Genoms bei den Stören schon so lange zurückliegt. „Bei diesem langen Zeitraum hätten wir stärkere Veränderungen des Erbguts erwartet, denn bei tetraploiden Lebewesen gehen im Laufe der Zeit häufig Genabschnitte verloren, werden stummgeschaltet oder bekommen eine neue Funktion“, sagt Professor Axel Meyer, Evolutionsbiologe an der Universität Konstanz.
Unklarheit über das Erbgut beseitigt
Überhaupt war der exakte Zustand des Störgenoms unter Forschenden lange umstritten. Während die Einen darin klar Polyploide sahen – also ein mehrfach verdoppeltes Erbgut –, interpretierten Andere den Stör als „funktionell diploid“, also als eine Art, die ihr Genom zunächst verdoppelt und damit tetraploid wird, anschließend aber im Laufe der Evolution den Geninhalt wieder reduziert. Die Chromosomen liegen damit zwar immer noch jeweils in zwei Paaren vor; diese teilen jedoch ihre Aufgaben unter sich auf.
Jetzt ist klar: „Wir haben herausgefunden, dass der Sterlet nicht in einen diploiden Zustand zurückgekehrt ist. Stattdessen hat er einen unerwartet hohen Grad an struktureller und funktioneller Polyploidie beibehalten“, so Manfred Schartl. Dieses „Verharren“ erklären die Forschenden mit dem der extrem langsamen molekularen Evolution, der die meisten Fraktionen des Sterlet-Genoms unterliegen.
Doppeltes Erbgut: Als Laie könnte man da vermuten, das erleichtert die Forschung, weil alles in zweifacher Ausführung vorliegt. Tatsächlich stellt es die Forschenden vor eine große technische Herausforderung. „Das hat das Zusammensetzen und die Zuordnung der kleinen ‚Sequenzschnipsel‘, die uns die modernen Genomsequenzierungsverfahren liefern, außerordentlich erschwert“, sagt Schartl. Durch spezielle Verfahren sei es jedoch gelungen, mit einem internationalen Konsortium „ein sehr gutes Referenzgenom und das überhaupt erste von einem so urtümlichen Fisch“ zu erstellen.
Genforschung für den Artenschutz
Die Entschlüsselung des Genoms ist eine wichtige Grundlage für den Schutz der Störarten. „Wir werden in Zukunft mit genetischen Analysen das Geschlecht der Tiere bestimmen können, was die Nachzucht erheblich erleichtert. Wir können so die Fortpflanzung steuern und die Bewirtschaftung von Brutbeständen unterstützen. Das ist ein Meilenstein für unsere Bemühungen, diese uralten Arten auch im Hier und Jetzt zu erhalten“, resümiert IGB-Störexperte Dr. Jörn Gessner.
Publikation: The sterlet sturgeon genome sequence and the mechanisms of segmental rediploidization. Du Kang, Matthias Stöck, Susanne Kneitz, Christophe Klopp, Joost Woltering, Mateus Adolfi, Romain Feron, Dmitry Prokopov, Alexey Makunin, Ilya Kichigin, Cornelia Schmidt, Petra Fischer, Heiner Kuhl, Sven Wuertz, Jörn Gessner, Werner Kloas, Cedric Cabau, Carole Iampietro, Hugues Parrinello, Chad Tomlinson, Laurent Journot, John H. Postlethwait, Ingo Braasch, Vladimir Trifonov, Wesley C. Warren, Axel Meyer, Yann Guiguen and Manfred Schartl. Nature Ecology & Evolution (2020), https://doi.org/10.1038/s41559-020-1166-x
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