Ein Interview mit Professorin Rita Adrian, sie ist Leitautorin in der Arbeitsgruppe II (Folgen, Anpassung und Verwundbarkeit) zum Sechsten Sachstandsbericht des Weltklimarats (IPCC), der heute erschienen ist. Sie wirkte im Kapitel über „Terrestrische und Süßwasser-Ökosysteme und ihre Dienstleistungen“ mit.
Rita Adrian ist Professorin für Limnologie an der Freien Universität Berlin und leitete bis Ende 2021 die Abteilung für Ökosystemforschung des Leibniz-Institutes für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB). Sie forscht zur Langzeitentwicklung von Seen und untersucht den Einfluss des Umweltwandels auf Gewässer.
Ihre Devise für dieses Interview: Lass die Zahlen sprechen! Anlässlich des Sechsten IPCC-Berichts also sechs Zahlen, die beispielhaft für die bisherigen und prognostizierten Auswirkungen des Klimawandels auf Gewässer stehen. Wir nehmen uns die 3, die 4, die 18, die 10, die 20 und die 60 vor.
Frau Adrian, nun ist es geschafft, ihr Beitrag zum IPCC Bericht. Was geht Ihnen durch den Kopf?
Dieser IPCC-Bericht wurde von 270 Autoren aus 67 verschiedenen Ländern zusammengestellt und stellt den „Goldenen Standard“ des wissenschaftlichen Erkenntnisstandes zu den Auswirkungen des Klimawandels auf Ökosysteme und Gesellschaften dar. Die IPCC-Berichte sind eine einzigartige Zusammenarbeit zwischen Forschenden, die den Bericht schreiben und Regierungen, die den Bericht in Auftrag gegeben haben und als Grundlage für politische Entscheidungen nutzen. Unser Bericht wird Grundlage für die Diskussionen der COP27-Verhandlungen im November dieses Jahrs in Ägypten sein. Trotz der enormen Anstrengung ist es als Wissenschaftlerin sehr befriedigend. Wir haben sehr gute Evidenzen zu den Folgen der Klimaveränderungen für Binnengewässer. Die Datengrundlage aus der Langzeitforschung, von experimentellen Untersuchungen, der Fernerkundung und der Modellierung verbessert sich zunehmend. Wir können also recht gut in die Zukunft sehen. Forschende sind zunehmend in internationalen Netzwerken aktiv, um die Effekte des Klimawandels lokal und vor allem global zu erforschen.
In der Rolle der Bürgerin wünsche ich mir nun natürlich die Festlegung von klaren Zielen, wie wir Emissionen senken und Ökosysteme resilienter gegenüber dem Klimawandel gestalten.
Wir haben ausgemacht, heute über Zahlen zu sprechen. Sie haben mir sechs verschiedene genannt, die exemplarisch für das Thema Gewässer im Klimawandel stehen. Beginnen wir mit der 3.
Die 3 steht für die Binnengewässer selbst, die als dritter Lebensraum neben dem Land und dem Meer in den politischen Diskursen oft unter den Tisch fallen. Im Sechsten Sachstandsbericht des Weltklimarates wird den Binnengewässern und ihrer Ökologie sowie dem Wasser als Ressource große Bedeutung eingeräumt. Das ist notwendig! Der Klimawandel beeinträchtigt Seen und Flüsse sowie die Menschen und andere Lebewesen, die davon abhängig sind. Binnengewässer haben sich bereits stark erwärmt, sie verlieren Sauerstoff, die Eisbedeckung schwindet. Höhere Wassertemperaturen fördern Algenblüten mit negativen Auswirkungen für die Trinkwasserversorgung und die Freizeitnutzung. Immer mehr Flüsse und Kleinstgewässer fallen ganz oder zeitweise trocken mit negativen Folgen für die Biodiversität. Der globale Erwärmungstrend geht außerdem mit extremen Trockenperioden und Fluten einher. Viele Regionen sind von Wasserverknappung und Rückgang der Grundwasserstände betroffen. In Europa ist der Mittelmeerraum besonders betroffen, aber auch Brandenburg. Die Auswirkungen von Fluten mussten wir im letzten Jahr im Ahrtal schmerzlich erleben.
Bei Klimawandel denkt man ja zuerst an Erwärmung – beginnen wir damit. Was ist, wenn wir in die Zukunft des Klimawandels schauen – und das tun Forschende ja mittels mathematischer Modellszenarien. Wie wird die Erwärmung der Gewässer aussehen?
Legt man das höchste Klimaszenario zugrunde werden die Wassertemperaturen, wie wir sie beispielsweise während der letzten Hitzesommer in Europa beobachten konnten, zunehmend „normal“ sein. Laut Modellszenarien werden sich die Seen mit jedem Anstieg der Lufttemperatur um 1° C schätzungsweise um 0,9 °C erwärmen. Ein Forschungsteam unter Beteiligung des IGB hat im letzten Jahr eine Studie dazu publiziert. Sie prognostizierten auch die künftige Entwicklung unter verschiedenen Szenarien. In einem emissionsarmen Szenario wird sich die durchschnittliche Erwärmung der Seen in der Zukunft voraussichtlich bei +1,5 °C über dem vorindustriellen Niveau stabilisieren. In einer Welt mit hohen Emissionen könnten diese Veränderungen zu einem Anstieg von +4,0 °C führen.
4 °C, das klingt dramatisch im Vergleich zu steigenden Lufttemperaturen. Zu welchen Problemen führt eine solche Erhöhung der Wassertemperatur?
Im IPCC Bericht weisen wir darauf hin, dass die Wassertemperatur der Haupttreiber für fast alle Prozesse im Gewässer ist. Sie beeinflusst die thermische Struktur, die Eisbedeckung, die Durchmischung des Wasserkörpers von Seen, die Nährstoffdynamik und die Wachstumsraten von Organismen. Mit der Erwärmung durchmischen sich die Seen weniger vollständig. Das hat zur Folge, dass die tiefen Wasserschichten nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt werden.
Der Sauerstoffgehalt im Wasser nimmt also ab?
Ja, im globalen Mittel lag der Verlust in den oberen warmen Wasserschichten bei 4 bis 5 Prozent, was durch die verminderte Löslichkeit von Sauerstoff bei höheren Temperaturen bedingt ist. Im Tiefenwasser lag der Verlust in den vergangenen Dekaden bereits bei rund 18 Prozent. Der Sauerstoffverlust im Tiefenwasser folgt einem physikalischen Prinzip und hängt mit den steigenden Wassertemperaturen an der Oberfläche und einer längeren Wärmeperiode im Jahresverlauf zusammen: Erwärmt sich das Oberflächenwasser bei stabilen Tiefwassertemperaturen, nimmt der Dichteunterschied zwischen diesen Schichten, die sogenannte thermische Schichtung, zu. Je stärker und länger diese Schichtung ist, desto unwahrscheinlicher ist eine Durchmischung. So wird weniger Sauerstoff in die tieferen Wasserschichten eingemischt. Ein Beispiel negativer Rückkopplung der Erwärmung.
Welche Auswirkungen hat der verringerte Sauerstoffgehalt?
Das ist insbesondere für die kälteliebenden Fischarten problematisch, die sich im kalten Tiefenwasser aufhalten. Diese Arten können nur bedingt nach oben ausweichen – da es dort zu warm für sie ist. Sie unterliegen einem doppelten Stress: durch Wärme und den Sauerstoffmangel. Mit höheren Temperaturen steigen die Kosten für den Stoffwechsel – was sich negativ auf das Wachstum und die Vermehrung auswirkt – mit Einbußen für die Biodiversität und die Fischerei. Dies ist für Länder, in denen Fisch eine wesentliche Nahrungsquelle für die Menschen ist – wie in Teilen Afrikas – ein großes Problem. Hier werden große Verluste unter zukünftigen Klimaszenarien im IPCC Bericht prognostiziert. Neben den Verlusten für die Fischerei verlieren wir in diesen Seen auch einen großen Teil der endemischen Fischarten, die nur in diesen Seen vorkommen. In unseren Breiten verschiebt sich die südliche Ausbreitungsgrenze kälteliebender Fischarten nach Norden. Dies betrifft beispielsweise Maränen, Lachsartige Fische, oder den Stint.
Die Verfügbarkeit von Sauerstoff beeinflusst aber auch die Wasserqualität: Unter sauerstofffreien Bedingungen düngen sich eutrophe d.h. nährstoffreiche Seen aus dem Sediment heraus selbst. Das verstärkt die Entwicklung von Algenblüten, mit negativen Auswirkungen auf die Trinkwasserversorgung und dem Freizeitwert für die Bevölkerung. Dies ist ein klassisches Beispiel einer positiven Rückkopplung, die durch die Erwärmung und die Veränderung im Schichtungsverhalten von Seen initiiert wird. Eine nachhaltige Landwirtschaft mit reduzierten Nährstoffeinträgen in die Gewässer ist eine Option der Anpassung.
Sie sprachen das thermische Schichtungsverhalten an. inwiefern spielt das eine Rolle für die Algenentwicklung und die Wasserqualität?
Ja, es ist wie immer komplexer als es auf dem ersten Blick erscheint. Im IPCC-Bericht zeigen wir, dass Im Mittel die Algenbiomasse in Seen global in den vergangenen Dekaden gestiegen ist – durch den positiven direkten Effekt höherer Temperaturen auf das Algenwachstum und dem indirekten Effekt der internen Düngung als Folge der Verlängerung in der thermischen Schichtung im Sommer, wie zuvor erwähnt. In tiefen nährstoffarmen Seen nimmt die Algenbiomasse aber eher ab.
Die veränderte Temperaturschichtung beeinflusst also die Nährstoffverfügbarkeit im Gewässer?
Genau! Und die Wirkung dessen lässt sich auf einen Satz reduzieren: Grün wird grüner und blau wird blauer. Das Phänomen „grüne Seen werden grüner“ spiegelt die zuvor erwähnte kausale Wirkungskette für nährstoffreiche Seen wider: höhere Temperaturen – längere thermische Schichtung – Verlust von Sauerstoff in der Tiefe – interne Düngung aus dem Sediment – Zunahme der der Eutrophierung – Zunahme der Algenbiomasse, die das Wasser grün erscheinen lässt.
Dies ist in tiefen nährstoffarmen „blauen Seen“ anders. Das Tiefenwasser ist oftmals die einzige Nährstoffquelle, wenn die Nährstoffe in den oberen Wasserschichten aufgezehrt sind. Von diesem Nährstoffdepot sind die lichtdurchfluteten oberen Wasserschichten durch Verlängerung der thermischen Schichtung inzwischen länger getrennt. Im Durchschnitt sinkt die Algenbiomasse – die Seen werden „blauer“. Dies kann mit Verlusten für die Binnenfischerei einhergehen.
Wir haben nun vornehmlich vom Sommer gesprochen, was geschieht im Winter?
Seen frieren heute im globalen Mittel 2 bis 3 Wochen später zu und tauen 1 bis 3 Wochen früher auf. Laut Modellszenarien werden sich die Seen mit jedem Anstieg der Lufttemperatur um 1 ° C schätzungsweise um 0,9 °C erwärmen und 10 Tage an Eisbedeckung verlieren. Hinzu kommt, dass Seen immer häufiger keine durchgehende Eisbedeckung mehr aufweisen, sondern in einem Winter mehrmals zufrieren und wieder auftauen. Diese intermittierende Eisbedeckung ist eine Beobachtung, die wir auch am Berliner Müggelsee gemacht haben. Im IPCC-Bericht beschreiben wir, dass sich die geographische Zone, in der Seen nun eine intermittierende Eisbedeckung ausbilden, weiter nach Norden verschiebt. Das heißt etwa, dass in Südschweden heute Eisbedingungen vorherrschen wie wir sie hier im Berliner Raum vor einigen Dekaden hatten.
Warum ist die Eisbedeckung von Bedeutung? Es heißt doch: Still und starr ruht der See?
Obwohl der Winter gemeinhin als eine Zeit relativer Ruhe gilt, sind die Ökosystemfunktionen in dieser Jahreszeit dynamisch. Darüber hinaus gibt es zunehmend Belege dafür, dass die Bedingungen im Winter die Voraussetzungen für die Bedingungen im Sommer schaffen und sich beispielsweise Temperaturveränderungen in tiefen Seen über mehrere Jahre fortpflanzen. Die Eisbedeckung verändert einen See grundlegend, indem sie diesen von der umgebenden Landschaft und Atmosphäre isoliert. Die Dicke und die optischen Eigenschaften von Eis und Schnee regulieren die Menge der Sonnenstrahlung, die in den See eindringt, und schirmen ihn gleichzeitig vor Wind ab. Folglich ist die Eisbedeckung ein wichtiger Faktor, der die Durchmischung des Wassers in Seen reguliert und vertikale thermische und chemische Gradienten strukturiert. Das ist beispielsweise für die Sauerstoffverfügbarkeit in der Wassersäule von Bedeutung. Der Verlust von Eis hat einen Vorteil für Fische. Der Wasserkörper bleibt im Winter durchmischt – und bleibt mit Sauerstoff aufgefüllt. Das ist unten dem Eis anders. Hier kommt es zur Zehrung von Sauerstoff – der in sehr kalten Wintern immer mal wieder zu lokalem Fischsterben führt.
Wie verändern sich denn die Lebensbedingungen für die Wasserlebewesen allgemein?
Ja, nicht nur die schlechtere Wasserqualität und veränderte Sauerstoffbedingungen beeinflussen die Lebewesen im Gewässer. Es ist auch die Veränderung im thermischen Lebensraum. Man muss sich das so vorstellen: Die meisten Lebewesen im Wasser sind wechselwarm – das heißt, sie gleichen ihre Temperatur an die Umgebungstemperatur des Wassers an. Dabei hat jede Art ihren individuellen Temperaturbereich, an den ihre Körperfunktionen wie Stoffwechsel und Fortpflanzung angepasst sind. Dieser Temperaturbereich bestimmt weitgehend, in welcher Tiefe und wann im Jahresverlauf Arten in Seen vorkommen. Innerhalb des großen Wasserkörpers gibt es also unterschiedliche – warme und kalte – Temperaturlebensräume. Wir haben quantifiziert, dass die Temperaturlebensräume zwischen den Zeiträumen 1978-1995 und 1996-2013 in 139 Seen global für weniger anpassungsfähige Arten, z.B. Arten die auf eine Tiefe und eine Jahreszeit beschränkt sind, um fast 20 Prozent reduziert wurden – bei einem Erwärmungstrend von ca. 1 °C. Für wärmeliebende Arten kann dies eine Zunahme des thermischen Habitats in der gleichen Größenordnung bedeuten. Wir werden die kälteliebenden Arten – wie bspw. die Rotforelle oder die Maräne – verlieren. Wärmetolerante Arten wie Brassen, Plötzen oder der Zander könnten profitieren.
Veränderte Lebensräume in Gewässern, aber fallen auch Lebensräume ganz weg?
Ja, leider! Im neuen IPCC-Bericht dokumentieren wir, dass die Klimaerwärmung überlagert durch Hitzeextreme, die bereits durch Dammbildungen oder Wasserentnahmen verursachte enorme Fragmentierung von Flüssen verstärkt. Etwa 60 Prozent der globalen Fließgewässerstrecken trocknen zeitweise aus. Wenn Gewässerabschnitte zeitweise trockenfallen, bedeutet das gerade für wandernde Fischarten eine unüberbrückbare Hürde. Zudem werden Ufersedimente freigelegt und mit Luftsauerstoff versorgt. Dies führt zu einer Erhöhung des mikrobiellen Abbaus von organischem Material unter Freisetzung von Treibhausgasen. Dies ist nur einer der Mechanismen, die Seen und trockenfallende Flüsse zu Treibhausgas-Quellen für die Atmosphäre machen – und damit die Klimaerwärmung in positiver Rückkopplung verstärken.
Liebe Frau Adrian, nun haben wir alle „Zahlen“ aufgedeckt. Zum Abschluss ein letztes „Wort“?
Die IPCC-Berichte sind eine Erfolgsgeschichte. Wissenschaftliche Genauigkeit ist das Gütesiegel – zuvor von hunderten Forschenden, Fachleuten und Regierungsmitgliedern evaluiert. Hier können wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unsere Ergebnisse und Risikoabschätzungen in eine Form bringen, die als Grundlage für eine politische Umsetzung genutzt werden kann.
-Pressemitteilung IGB-