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Millionen rätselhafte Gruben am Ozeangrund entschlüsselt

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Schweinswale erzeugen bei der Jagd nach Sandaalen massenweise Krater am Meeresgrund, die dann von der Strömung weiter ausgespült werden. Bild: Schneider von Deimling, Hoffmann, Geersen et al. (2023), Commun Earth Environ
Schweinswale erzeugen bei der Jagd nach Sandaalen massenweise Krater am Meeresgrund, die dann von der Strömung weiter ausgespült werden. Bild: Schneider von Deimling, Hoffmann, Geersen et al. (2023), Commun Earth Environ

Eine Studie unter Leitung der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) zeigt erstmals, wie Schweinswale bei der Jagd nach Sandaalen den Meeresboden in der Nordsee gestalten.

Die Weltmeere sind ein gewaltiger Lebensraum für unzählige Lebewesen, die auf dem Meeresgrund siedeln, laichen, graben oder sich ernähren. Dabei beeinflussen sie auch die Gestaltung des Meeresbodens. Doch wie genau, ist bisher kaum Gegenstand der Forschung. Geowissenschaftler der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) haben in einer fachübergreifenden Studie gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus der Biologie und der Ozeanographie die kraterartigen Vertiefungen im Meeresboden in der Nordsee genauer untersucht. Sie konnten aufzeigen, dass diese in direkter Verbindung zum Lebensraum der Schweinswale und Sandaale auftreten und liefern erstmals eine schlüssige Erklärung für die Bedeutung dieser Tiere hinsichtlich der Meeresbodengestaltung. Die Ergebnisse wurden in der Fachzeitschrift Communications Earth & Environment veröffentlicht.

Tausende kraterartige Vertiefungen im Sediment

Der Meeresboden in der Nordsee ist übersät mit Tausenden von kraterartigen Vertiefungen im Sediment, den so genannten Pockmarks. Weltweit gibt es vermutlich Millionen von ihnen. Sie entstehen durch aufsteigende Fluide wie das Treibhausgas Methan oder Grundwasser, so die gängige Lehrmeinung. Ein Großteil dieser Vertiefungen gibt Forschenden bis heute Rätsel auf, denn viele lassen sich nicht durch Fluidaustritte erklären. “Unsere Ergebnisse zeigen zum ersten Mal, dass diese Vertiefungen in direkter Verbindung mit dem Lebensraum und dem Verhalten von Schweinswalen und Sandaalen auftreten und nicht durch aufsteigende Fluide gebildet werden“, sagt Dr. Jens Schneider von Deimling, Erstautor der aktuellen Studie und Geowissenschaftler an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU). „Unsere hochaufgelösten Daten liefern eine neue Interpretation für die Entstehung von Zehntausenden von Gruben (im Englischen: pits) am Meeresboden in der Nordsee und wir sagen voraus, dass die zugrundeliegenden Mechanismen weltweit gelten, aber bisher übersehen wurden“, so Schneider von Deimling weiter. Für die Untersuchung haben Schneider von Deimling und Forschende des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI), der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover (TiHo) und des Leibniz-Instituts für Ostseeforschung Warnemünde (IOW) den Meeresboden in der Nordsee vor Helgoland zentimetergenau untersucht und dabei auch das Verhalten von Wirbeltieren wie die Schweinswale in ihre Analysen einbezogen.

Schweinswale hinterlassen bei der Sandaal-Jagd Gruben im Meeresboden

Die Mehrzahl der Vertiefungen im Meeresboden in der Deutschen Bucht, so vermutete das Forscherteam, werden unter anderem von Schweinswalen bei der Nahrungssuche erzeugt und im weiteren Verlauf durch Bodenströmung ausgekolkt. Eine Schlüsselrolle kommt hierbei dem Sandaal zu, ein kleiner, aalartiger Fisch, der die überwiegende Zeit des Jahres flach vergraben im Sediment lebt. Der Sandaal ist nicht nur in der Fischerei beliebt, sondern wird auch von Schweinswalen in großen Mengen konsumiert. „Aus Analysen des Mageninhalts gestrandeter Schweinswale wissen wir, dass unter anderem Sandaale eine wichtige Futterquelle für die Population in der Nordsee darstellen“, sagt Dr. Anita Gilles vom TiHo-Institut für Terrestrische und Aquatische Wildtierforschung (ITAW), die sich seit langem mit der Biologie von marinen Säugetieren beschäftigt. Die Forschenden konnten in ihrer Studie aufzeigen, dass Schweinswale auf ihrer Jagd nach vergrabenen Sandaalen Gruben im Meeresboden hinterlassen. Diese Pits ähneln zwar den bekannten Pockmarks, sind aber deutlich flacher.

In wenigen Monaten hatten die Schweinswale im Untersuchungsgebiet weitere Gruben bei der Sandaal-Jagd ausgewühlt. Bild: Schneider von Deimling, Hoffmann, Geersen et al. (2023), Commun Earth Environ
In wenigen Monaten hatten die Schweinswale im Untersuchungsgebiet weitere Gruben bei der Sandaal-Jagd ausgewühlt (blaue Pfeile). Bild: Schneider von Deimling, Hoffmann, Geersen et al. (2023), Commun Earth Environ

Moderne Fächerecholot-Technologie im Einsatz

Der Nachweis der Pits gelang erst in den letzten Jahren auf Grundlage moderner Fächerecholottechnologie, die an der CAU intensiv gelehrt und betrieben wird. „Der Entstehungsmechanismus dieser Pits, wie wir die Gruben nennen, erklärt wahrscheinlich auch weltweit die Existenz zahlreicher kraterartiger Vertiefungen am Meeresboden, die als Folge von Methangasaustritten fehlinterpretiert wurden“, sagt der Geowissenschaftler Schneider von Deimling. In der Nordsee identifizierten die Forschenden 42.458 dieser rätselhaft geformten, flachen Pits mit einer durchschnittlichen Tiefe von nur elf Zentimetern, die sich in ihrer Morphologie deutlich von den eher konischen Kratern der Pockmarks abheben.

Schneider von Deimling arbeitet in der Kieler Arbeitsgruppe Marine Geophysik und Hydroakustik am Institut für Geowissenschaften und im CAU-Forschungsschwerpunkt Kiel Marine Science (KMS), und ist stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Hydrographischen Gesellschaft (DHyG). Als Experte für Meeresbodenkartierung, Methangasaustritte, und Pockmarks am Meeresboden, glaubte er allerdings nie an die Genese der Vertiefungen in der Deutschen Bucht in Folge aufsteigender Fluide. „Wir mussten eine alternative Hypothese für die Entstehung entwickeln. Dadurch konnten wir vorhersagen, wo potentielle Futterstellen von Schweinswalen sind, und genau hier konnten wir die Pits finden – immer in der Nähe von Sandaal-Habitaten. Unsere umfangreichen und fächerübergreifende Datenanalyse liefert jetzt eine schlüssige Erklärung für unsere Schweinswal-Gruben-Hypothese“.

Die Schweinswal-Gruben-Hypothese

Schlüssel zu den neuen Erkenntnissen war ein disziplinenübergreifender Ansatz, der geologische Untersuchungen, geophysikalische Sonarmessungen, die Verhaltens- und Nahrungsbiologie von Wirbeltieren, Satellitenauswertung, und ozeanographische Analysen zusammenführte. Durch die präzise Analyse von Millionen von Echolotungen, die mit deutschen Forschungsschiffen erhoben wurden, konnten die Forscherinnen und Forscher den ungewöhnlichen Pits auf die Spur kommen. „Mit speziellen Echolot-Verfahren können wir heute den Meeresboden zentimetergenau vermessen und so die flachen Pits finden. Wir schauen auch in den Meeresboden hinein und können erkennen, ob dort beispielsweise freies Methangas vorkommt oder eben nicht“, erklärt Dr. Jasper Hoffmann vom AWI.

Die Analyse der Daten, die auf tausenden zurückgelegten Seemeilen mit Forschungsschiffen erhoben wurden, war eine Mammutaufgabe. „Mit modernen Verfahren lassen sich solche Strukturen automatisiert in akustischen Datensätzen finden, charakterisieren und in großen Datensätzen automatisiert analysieren“, so Dr. Jacob Geersen, Co-Autor der Studie.

Schweinswale formen den Meeresgrund

Aktuell geht das Forschungsteam davon aus, dass die anfänglichen Fressgruben der Schweinswale als Keimzelle für die Auskolkung dienen und sich schließlich zu größeren Pits entwickeln. Diese Erkenntnis hat darüber hinaus weltweite Folgen. Das Durchwühlen von Sedimenten durch Meeressäuger im Ozean könnte den Meeresboden auf globaler Ebene modulieren und benthische Ökosysteme beeinflussen. Allein im Untersuchungsgebiet sind neun Prozent des Meeresbodens von Pits bedeckt. Erste Volumenabschätzungen haben ergeben, dass hier 773.369 Tonnen Sediment auf einer Fläche von 1.581 km² umgelagert wurde. Das entspricht ungefähr dem Gewicht einer halben Millionen PKW. „Unsere Ergebnisse haben aus geologischer und aus biologischer Sicht weitreichende Bedeutung. Sie können dazu beitragen, ökologische Risiken im Hinblick auf den Ausbau erneuerbarer Energien im Offshore Bereich zu bemessen und damit auch den Meeresumweltschutz zu verbessern“, schlussfolgert Schneider von Deimling.

-Pressemitteilung Christian-Albrechts-Universität zu Kiel-

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