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Mehr Überflutungsflächen an der Ostseeküste gefordert

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Deichrückverlegungen schaffen eine natürliche Pufferzone zwischen Meer und Deich. Hier ein Beispiel aus Freiston Shore in England, wo der Deich geschlitzt wurde, sodass Wasser auf natürliche Weise ins Hinterland gespült werden kann. Bild: Joshua Kiesel, Uni Kiel

Die Rekord-Sturmflut im Oktober 2023 hat schwere Schäden an der Deutschen Ostseeküste verursacht. Effektive Anpassungen an den steigenden Meeresspiegel werden daher immer drängender.

In zwei aktuellen Studien haben Forscherinnen und Forscher der Christian-Albrechts-Universität in Kiel (CAU) sowohl die Überflutungsflächen entlang der Ostsee-Küstengebiete als auch erstmals in hoher Auflösung die möglichen Anpassungsoptionen aktueller Deichlinien modelliert. Dabei legen sie verschiedene Sturmflut- und Meeresspiegelanstiegsszenarien zu Grunde. Ihre Ergebnisse zeigen auf, dass basierend auf der aktuellen Deichlinie weder eine Erhöhung noch eine Rückverlegung für den Schutz von Menschen, Infrastruktur oder Gebäuden ausreichend sein kann, um das Überflutungsrisiko bis zum Jahr 2100 entlang der Deutschen Ostseeküste entscheidend zu reduzieren. Das Risiko für die Bevölkerung im Vergleich zu heute existierendem Küstenschutz verringerte sich im Modell etwa für das Szenario der Deichrückverlegungen nur um maximal 26%. Ihre Ergebnisse sind am 24. November 2023 in der Fachzeitschrift Communications Earth & Environment sowie Anfang September in Natural Hazards and Earth System Sciences erschienen.

Überflutungsflächen
Schützender Schilfgürtel vor einem Deichabschnitt der schleswig-holsteinischen Halbinsel Holnis. Bild: Tobias Hahn, Uni Kiel

Überflutungsflächen für den Küstenschutz

„Der Großteil unserer simulierten Überflutungsflächen befindet sich in Mecklenburg-Vorpommern, mit den Hotspots in den Bodden von Fischland-Darß-Zingst, Rügen, Usedom und das Peene Mündungsgebiet. In Schleswig-Holstein sind insbesondere die Flensburger Förde, die Eckernförder Bucht, Fehmarn, Travemünde sowie Lübeck betroffen“, sagt Erstautor Dr. Joshua Kiesel, Postdoktorand in der Arbeitsgruppe Küstenrisiken und Meeresspiegelanstieg am Geographischen Institut der CAU. Diese wird von Professor Athanasios Vafeidis, Co-Autor beider Studien und Mitglied im CAU-Forschungsschwerpunkt Kiel Marine Science (KMS) geleitet. „Heute können wir für einen großen Teil der Deutschen Ostseeküste noch entscheiden, wie eine Anpassung in Zukunft aussehen kann. Die bekannten Nachteile von existierenden Deichen sollten dabei unbedingt berücksichtigt werden“, sagt Vafeidis. Dies sei auch zum Schutz vor zukünftigen Extremereignissen, die sich mit hoher Wahrscheinlichkeit häufen, entscheidend, so der CAU-Forscher.

Pufferzonen zwischen Meer und Deich schaffen

Heute gewinnen vor allem naturbasierte Anpassungsoptionen zunehmend an Bedeutung. Ein Beispiel dafür sind kontrollierte Deichrückverlegungen, die das Ziel haben, eine natürliche Pufferzone zwischen Meer und Deich zu schaffen. Beispiele dafür sind Küstenfeuchtgebiete, die mit ihrer Vegetation die Oberflächenrauigkeit erhöhen und damit einen natürlichen Beitrag zum Küstenschutz leisten. In diesen Pufferzonen können sich selten gewordene Lebensräume wie Salzwiesen und Schilfröhrichte entwickeln, die auch zur Erhaltung der Biodiversität beitragen.

Bisherige Modelle simulieren Überflutungen nach dem Prinzip einer gleichmäßigen Ausbreitung des Wassers, wenn Sturmfluten auf die Küste treffen. In den aktuellen, prozessbasierten Modellierungen berücksichtigen die Forschenden nun zusätzlich auch den zeitlichen Verlauf von Sturmfluten sowie die Abschwächung der Flut mit ihren Strömungen und Scheitelwasserständen, wenn sie auf unterschiedlich raue Flächen treffen wie etwa Feuchtgebiete, Wälder oder befestigte Böden. „Im Vergleich zu früheren überregionalen oder kontinentalen Studien haben wir mit unserem Küstenüberflutungsmodell erstmals für die gesamte deutsche Ostseeküste hochaufgelöste Geländedaten von Landesschutz- und Regionaldeichen mit einem Meter Auflösung verwendet. Wir konnten so die Effektivität auf der einen Seite von bestehenden und erhöhten Deichen und auf der anderen Seite von rückverlegten Deichen einschätzen. Beides wird jedoch vermutlich nicht ausreichen, um dem fortschreitenden Meeresspiegelanstieg standhalten zu können“, so Küstengeograf Kiesel.

Küstenfeuchtgebiete erhöhen mit ihrer Vegetation die Oberflächenrauigkeit und leisten damit einen natürlichen Beitrag zum Küstenschutz, indem sie eine auflaufende Strumflut abbremsen. Als Pufferzone sind Salzwiesen auch effektive Kohlenstoffspeicher und eine Kinderstube für Fische und Vögel. Bild: Joshua Kiesel, Uni Kiel
Potentielle Deichrückverlegungsflächen entlang der deutschen Ostseeküste: Ausschließlich Flächen, in denen keine größere Straßen, Schienen oder jegliche Art von Bebauung vorkommen und die höher über dem Meeresspiegel liegen. Bild: © Kiesel, J. et al. (2023), Commun Earth Environ

Deichrückverlegungen bieten höheren Schutz

Kiesel und das Forschungsteam schätzen jedoch das Schutzpotenzial für eine Rückverlegungen von Deichen inklusive deren Erhöhung als größer ein als eine Erhöhung ohne Rückverlegung. „Bei Deichrückverlegungen werden existierende Deichlinien geschlitzt, sodass Wasser auf natürliche Weise in das Hinterland gespült wird und typischerweise wird vor der Schlitzung eine neue Deichlinie landeinwärts gezogen. Entlang der Deutschen Ostseeküste gibt es bereits einige Beispiele solcher Deichrückverlegungen“, sagt der Wissenschaftler. Der bessere Schutzeffekt gegen Sturmfluten, so die Erkenntnis aus der Modellstudie, liegt hier an der deutlich längeren, landwärtigen Deichlinie.

Um physikalisch plausible Überflutungsflächen für potentielle Deichrückverlegungen zu erfassen, legten die Wissenschaftler in ihrer Untersuchung mehrere Parameter zu Grunde: keine direkte Bebauung hinter dem Deich und keine Infrastruktur in Form von Straßen oder Schienennetz. Um die Effektivität von Deichrückverlegungen mit konventionellem Küstenschutz vergleichen zu können, wurden außerdem alle Landesschutz- und Regionaldeiche entlang der Deutschen Ostseeküste um 1,5 Meter gemäß dem Klimazuschlag von Landesschutzdeichen nach dem Klimadeich-Konzept erhöht. „Es gibt in der Wissenschaft eine breite Diskussion um Deichrückverlegungen und naturbasierte Anpassungsoptionen allgemein. Noch wenig untersucht ist jedoch die Effektivität in Bezug auf den Küstenschutz. Unsere Forschung schließt hier eine Lücke. Wir wollten wissen, welchen Beitrag Deichrückverlegungen zum regionalen Küstenschutz leisten können, wenn man sie überall dort implementiert, wo es physikalisch möglich ist“, sagt Kiesel. Aus diesem Grund wurden sozioökonomische Überlegungen sowie die oft fehlende Akzeptanz in der Bevölkerung für derartige Maßnahmen, die auch Eingriffe in die Infrastruktur bedeuten, zunächst nicht berücksichtigt.

Karte mit Überflutungsflächen an der deutschen Ostseeküste

In ihrer ersten Studie vom September 2023, rund einen Monat vor der schweren Sturmflut, hatte das Forschungsteam um Kiesel und Vafeidis bereits mit zwei Szenarien mit einem hohen Meeresspiegel nachweisen können, dass die gesamte deutsche Ostseeküste durch Überflutung stark gefährdet ist und Anpassungen im Küstenschutz notwendig sind. Sie koppelten dafür ein Modell der westlichen Ostsee mit einem Küstenüberflutungsmodell.

Die räumlichen Informationen über Deiche und Vegetation erfordern meist eine gute Lokalkenntnis und die Zusammenarbeit mit den Behörden. „Ohne unser transdisziplinäres Arbeiten hätten wir unsere Überflutungskarten nicht in dieser Auflösung bereitstellen können“, ergänzt Co-Autor Vafeidis, dessen Arbeitsgruppe eng mit den Landesbehörden zusammenarbeitet.

Mehr Forschung gefordert

Mit dem Klimadeichkonzept des Landes Schleswig-Holstein und den geplanten Deichkonstruktionen entlang der deutschen Ostseeküste sind bereits erste Maßnahmen zum Küstenschutz auf den Weg gebracht. Kiesel wünscht sich auch in Zukunft eine enge Zusammenarbeit: „Wir brauchen mehr Forschung über die Effektivität alternativer Anpassungskonzepte an den Meeresspiegel. Die dramatischen Ereignisse der Ostsee-Sturmflut haben gezeigt, dass wir möglichst heute damit beginnen sollten. Auch aufeinanderfolgende Sturmfluten in einem kurzen Zeitraum können sich zukünftig häufen. Die bereits durch die erste Sturmflut geschwächte Infrastruktur wäre bei nachfolgenden Ereignissen deutlich anfälliger, mit noch schlimmeren Konsequenzen für die Menschen an der Küste.“

Die Anpassungskonzepte sind eine Herausforderung, vor der nicht nur Länder und Menschen an der Deutschen Ostseeküste stehen. Auch in Europa nehmen derartige Risiken zu. So forscht die Arbeitsgruppe von Professor Anthanasios Vafeidis zu europäischen Lösungen im EU Horizon 2020 Projekt “Coastal Climate Core Services” (CoCliCo).

Naturbasierte Lösungen

Deiche sorgen für ein Gefühl von Sicherheit und ermöglichen oder fördern sogar menschliche Bebauung unmittelbar hinter dem Deich. Dadurch kann das Überflutungsrisiko durch Deiche paradoxerweise steigen, was in der Wissenschaft mit dem Levee-Effekt beschrieben wird. Gleichzeitig reduzieren Deiche die Anpassungsfähigkeit von ökologisch wertvollen Küstenfeuchtgebieten und Überflutungsflächen, die mit ihrer Vegetation die Oberflächenrauigkeit erhöhen und damit einen natürlichen Beitrag zum Küstenschutz leisten.

Niedrig gelegenes Land hinter Deichen wird zur weiteren Nutzung oft entwässert und die regelmäßige Sedimentzufuhr durch Überflutung bleibt aus, was verhindert, dass das Land hinter den Deichen im selben Tempo wie der Meeresspiegel anwachsen kann. Es fehlen demnach Sedimente und gleichzeitig sinkt das Land als Folge der Entwässerung, in einigen Gegenden bis unter das Niveau des Meeresspiegels, ab. Der Verlust von Küstenfeuchtgebieten und sinkendes Land tragen weiter zum Anstieg des Überflutungsrisikos bei. Aus diesem Grund bekommen heute naturbasierte Anpassungsoptionen zunehmend Aufmerksamkeit. Ein Beispiel dafür sind kontrollierte Deichrückverlegungen, die das Ziel haben eine natürliche Pufferzone zwischen Meer und Deich zu schaffen. In diesen Pufferzonen können sich insbesondere an der deutschen Ostseeküste selten gewordene Lebensräume wie Salzwiesen und Schilfröhrichte entwickeln und somit auch zur Erhaltung der Biodiversität beitragen.

-Pressemitteilung Christian-Albrechts-Universität zu Kiel-

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